Lichtfaenger 01 - Die Auserwaehlte
stieg in Jil auf, aber sie merkte bald, dass sie sich mit ihrem wilden Gezappel nur selbst verletzte. Cryson trug sie weiter den Weg entlang, bis die Dunkelheit sie beide verschluckte. Die Baumkronen verdeckten den Mond, Jil konnte den Weg unter sich nicht mehr erkennen. Cryson hingegen trug sie zielstrebig um mehrere Biegungen herum. Es war, als könnte er mühelos im Dunkeln sehen.
»Es tut mir wirklich leid, kleine Jil«, flüsterte er. »Ich möchte dir kein Leid zufügen. Du wirst bald verstehen, weshalb ich das tun muss.«
Obwohl die Situation alles andere als behaglich war, entspannte Jil sich etwas. Sie war sich sicher, dass Cryson kein normaler Mensch sein konnte. Sie hätte niemals eine Chance gegen ihn gehabt, selbst wenn sie mit hundert Messern bewaffnet gewesen wäre.
Jil spürte, wie Cryson sie einige Stufen über eine kurze Treppe hinab trug. Dann blieb er stehen und stellte Jil zurück auf ihre Füße. Noch immer presste er ihr eine Hand auf den Mund. Wenn die Baumkronen sich im Wind hin und her wiegten und das Mondlicht für einen kurzen Augenblick ungehindert bis auf den Waldboden drang, konnte Jil einen flüchtigen Blick auf das werfen, was sich nun vor ihr befand. Es war eine Tür, jedoch keine von der Sorte, die Jil kannte. Sie bestand weder aus Holz noch aus Stein, und ob es sich dabei tatsächlich um einfaches Metall handelte, konnte Jil nicht mit Sicherheit bezeugen. Die Tür, oder was auch immer dieses Gebilde darstellen wollte, war zweieinhalb Yards hoch, mindestens zwei Yards breit und erinnerte mehr an ein Kunstwerk als an eine Tür. Der Künstler hatte verzierte messingfarbene Platten aneinandergefügt und sie mit allerhand kleinen Rohren bestückt. Um den Türrahmen herum verlief eine Reihe von Zahnrädern, große und kleine, dicke und dünne. Jil starrte das Konstrukt ehrfürchtig an und vergaß darüber sogar, dass Cryson sie festhielt.
Cryson steckte seine freie Hand in die Innentasche seines Mantels und zog einen lächerlich kleinen Schlüssel hervor, der dem Prunk dieser Tür in keinster Weise gerecht wurde. Zielstrebig steckte er den kleinen goldfarbenen Gegenstand in ein Loch in der Mitte der Tür, das jeder Mensch übersehen hätte, der nicht wusste, dass es sich dort befand. Cryson wich einen Schritt zurück und zerrte Jil mit sich. Ein lautes Zischen entwich der Tür, dann setzten sich die Zahnräder in Bewegung. Beinahe lautlos schwang die Tür von der Mitte aus nach außen auf.
Das ist ein Traum. Das kann nicht real sein.
Cryson hob Jil über seine Schulter, gab ihren Mund frei und betrat den Raum hinter der Tür. Jil schrie nicht. Schon längst hatte sie aufgegeben, sich zur Wehr zu setzen. Über seine Schulter hängend beobachtete sie, wie sich die Tür hinter ihnen mit einem Zischen wieder schloss. Eine kleine Dampfwolke stieg auf und verpuffte an der Zimmerdecke.
Wieder ging es bergab. Eine weitere Treppe führte tiefer ins Innere der Erde hinein. Jil zählte die Stufen nicht, aber nach einer gefühlten Ewigkeit blieb Cryson endlich wieder stehen und setzte Jil ab. Es war beinahe vollständig dunkel, nur einige Gaslampen erhellten den Raum, der nun vor ihnen lag.
»Jil, das ist dein neues Zuhause«, sagte Cryson. Stolz schwang in seiner Stimme mit.
Im ersten Moment war Jil unfähig, ihm eine der zynischen Antworten zu geben, für die sie berüchtigt war. Sie war fasziniert von ihrer Umgebung, gleichzeitig aber auch wütend über ihre Entführung und Crysons Anmaßung, dies als ihr neues Zuhause zu bezeichnen. Nicht zuletzt war da noch ein Gefühl in ihr, das sie hasste: Angst.
»Könntest du mich darüber aufklären, was hier vor sich geht?«, fragte sie schließlich, aber ihre Stimme klang nicht halb so selbstsicher wie gewohnt.
»Alles zu seiner Zeit, kleine Jil.« Er nahm ihre Hand, als sei sie ein kleines Kind, mit dem man über eine belebte Straße gehen wollte. Jil wollte ihn von sich stoßen, aber ihre innere Stimme verriet ihr, dass sie ohnehin keine Möglichkeit zur Flucht gehabt hätte. Widerwillig ließ sie sich von dem gutaussehenden Kerl mit dem dunklen Pferdeschwanz durch sein Zuhause führen. In ihren Gedanken malte Jil sich bereits aus, wie sie sich aus dieser brisanten Situation befreien konnte, doch jeder fiktive Fluchtversuch versandete im Nirgendwo.
Schnell stellte Jil fest, dass es sehr viel mehr war als ein Haus unterhalb der Erdoberfläche. Im Zwielicht der Gaslaternen tat sich etwas vor ihren Augen auf, das wie eine Stadt oder eine
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