Lichtfaenger 01 - Die Auserwaehlte
wie ein Pistolenschuss. Regnete es in Haven? Jil wusste nicht einmal, ob es gerade Tag oder Nacht war, die Tageszeit hatte für sie keinerlei Bedeutung mehr. Die Erinnerung an ihren letzten Aufenthalt an der Oberfläche verblasste bereits wie ein schlechter Traum. Nichts als ein fader Nachgeschmack und der unbändige Hass auf die Vartyden, die sie dazu gezwungen hatten, Zeuge eines blutigen Kampfes zu werden, waren ihr geblieben. Jil tastete mit den Händen an der kühlen Wand entlang. Wasser benetzte ihre Fingerspitzen.
Plopp. Plopp .
Irgendwo musste es eine undichte Stelle in der Decke geben. Die Luft roch muffig und feucht. In Gedanken wiederholte Jil noch einmal den Weg, der sie wieder zurück in das Herz von Sedhia führen würde.
Zweimal nach rechts. Dann hundert Schritte geradeaus, über die Kreuzung hinweg, dann halb nach links an dem Gang vorbei, der zum Kohlebergwerk führte.
Sie hatte sich nicht verirrt. Noch nicht. Deshalb verspürte sie auch keine Angst, obwohl ihre Augen nicht einmal in der Lage waren, ihre eigenen Füße zu erkennen. Jil tastete nach der kleinen Flöte, die sie um den Hals trug. Wenn sie sich tatsächlich verirrte, konnte sie sie dazu verwenden, um Hilfe zu rufen. Doch dieser Fall würde nicht eintreten. Jils Gedächtnis war ein Schwamm, der alles in sich aufsog und nichts mehr vergaß, erst recht keine Wege. Cryson hatte sie dafür gelobt. Seit Wochen studierte sie Karten. Nicht die Karten von Sedhia, jedoch die von Falcon’s Eye, wo sich der Eingang zum Quartier der Vartyden befand. Sie war bestens auf ihre Aufgabe vorbereitet. Der Tag, an dem sie Sedhia vorerst verlassen würde und im Alleingang nach dem wertvollen Artefakt, dem Sedhiassa, suchen würde, rückte immer näher. Jil wäre lieber ohne das stetig in ihrem Hinterkopf pochende Wissen um die schwere Bürde ihres Auftrags in Sedhia geblieben. Es war erstaunlich, wie schnell sich ein Mensch an neue Lebensumstände gewöhnen konnte. Selbst die sonderbaren Dampfmaschinen der Sedharym vermochten sie nicht mehr in Erstaunen zu versetzen. Und es verstand sich von selbst, dass Endra ihr jeden Wunsch erfüllte. Auch wenn es hier unten dunkel und stickig war, war es doch schade, dass Jil dieses Nest bald verlassen musste.
Langsam bewegte sich Jil weiter durch den Gang. Niemals hatte sie sich so weit von Zuhause entfernt. Zuhause. Jil schmunzelte bei dem Gedanken. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie Crysons Haus ein Gefängnis genannt hatte.
»Aua!« Jils unwillkürlicher Ausruf hallte durch die Höhle. Sie hatte sich den Kopf gestoßen. Die Decke war an dieser Stelle deutlich niedriger als zuvor. Mit der Handfläche rieb sie sich die Stirn.
Jil hegte seit langem den Wunsch, einmal die unterirdischen Grenzen dieser Stadt zu erreichen, aber allmählich machte sich die Vermutung in ihr breit, dass die ganze Welt unterkellert sein könnte. Sie beschloss, noch bis zur nächsten Kreuzung weiterzugehen und dann umzukehren. Cryson sah es gar nicht gerne, wenn Jil sich allein herumtrieb, aber Jil hatte bislang immer wieder eine Möglichkeit gefunden, sich seinem Willen zu widersetzen.
Plötzlich spürte Jil einen kurzen Anflug von Panik. Hatte Cryson nicht davon gesprochen, dass es auch einen unterirdischen Zugang zum Hauptquartier der Vartyden gab, den sie mit ihrer magischen Mauer vor Eindringlingen schützen? Was, wenn diese Monster sich ebenfalls hier unten herumtrieben? Jil verlangsamte ihre Schritte und lauschte angestrengt in die Dunkelheit hinein. Für sie als Mensch würde der Schutzwall vielleicht nicht wirken, aber Jil war nicht erpicht darauf, auf diese Weise die Höhle des Löwen zu betreten. Dies entsprach auch nicht dem Plan, den Cryson für sie ausgebrütet hatte. Sie sollte sich als Mensch möglichst unauffällig ins Quartier der Wächter einschleusen.
Doch ihre Angst erwies sich vorerst als unbegründet. Abgesehen von dem Geräusch der herabfallenden Wassertropfen war es still. Oder hatte Jil gerade ein Scharren vernommen? Sie wagte sich noch zwei Schritte weiter in den Gang hinein. Es gab keinen Zweifel, sie hörte ein Scharren und ein Rauschen. Ihre Hände berührten unentwegt die kalten Steinwände, während sie langsam einen Fuß vor den anderen setzte. Schon mehrfach war sie mit der Bluse und dem Rock an einem scharfkantigen Stein hängen geblieben. Jil malte sich bereits aus, wie Crysons hübsches Gesicht sich vor Zorn in Falten legte, weil sie wieder einmal ein sündhaft teures Kleidungsstück zerstört
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