Lichtfaenger 01 - Die Auserwaehlte
sie verehren und ihr ein Leben ermöglichen, von dem sie immer nur geträumt hatte. Es war eine alberne Tagträumerei, doch Jil ließ ihrer Fantasie freien Lauf.
»Pass doch auf!«
Jil stolperte und konnte sich gerade noch an einer Laterne festhalten. Ein dumpfer Schmerz schoss in ihren Ellenbogen, etwas hatte sie angerempelt. Sie hob den Blick. Ein Latri zischte und rumpelte an ihr vorbei. Das eiförmige Gefährt sah aus der Nähe noch imposanter aus als von ihrem Fenster aus. Eine Frau mit flachsfarbenen Haaren, die ihr wirr vom Kopf abstanden, saß auf dem Führersitz. Sie funkelte Jil böse an.
»Hast du keine Augen im Kopf?«, fragte sie.
»Die Frage könnte ich dir ebenso stellen«, murmelte Jil mehr zu sich selbst als zu der Fahrerin, aber vor dem ausgeprägten Gehörsinn der Sedharym konnte man selbst mit einem Murmeln nichts verbergen. Die Frau betätigte einen Hebel neben ihrem Sitz und brachte das Latri zum Stehen. Dann musterte sie Jil von oben bis unten.
»Du bist die Menschenfrau, die uns helfen wird, oder?« Mit einem Mal entspannten sich ihre Gesichtszüge. Jil brachte nur ein Nicken zustande.
»Dann sollte ich vielleicht besser aufpassen, dich nicht zu überrollen, wie?« Sie verzog den Mund zu einem gequälten Lächeln. Dann hob sie die Hand zum Gruß, betätigte den Hebel von neuem und knatterte mit dem Latri davon. Jil, die nun völlig aus ihren Gedanken gerissen war, setzte ihren Weg nach Hause fort. Vor dem Fahrtstuhl, der im Erdgeschoss auf seinen nächsten Benutzer wartete, blieb Jil stehen und legte den Kopf in den Nacken. Hinter den Fensterscheiben ihres Zimmers war es dunkel. Es musste jemand dort gewesen und das Licht gelöscht haben.
Jil betrat den Fahrstuhl und drückte den Knopf, der ihn in Bewegung setzte. Vor der Tür ihres Zimmers brachte sie das wundersame Meisterwerk der Technik zum Halten und wühlte in ihrer Rocktasche nach dem kleinen Schlüssel, den Cryson ihr gegeben hatte. Mittlerweile durfte Jil sich frei in Sedhia bewegen, jedoch waren die Gänge für sie tabu. Jil hoffte, dass Liran sie nicht verraten würde.
Sie schloss die Tür auf, die sich mit einem Zischen öffnete und den dahinter liegenden Raum freigab. Die Säulenhäuser der Sedharym verfügten nur über ein einziges Zimmer pro Etage. Jil betrat den Raum und tastete nach dem Lichtschalter. Es war angenehm, keine Lampen entzünden zu müssen, um Licht zu machen. Dieses Leben bot einige Annehmlichkeiten. Als die Glühbirne in der Deckenlampe mit einem Surren aufleuchtete und den Raum mit Licht flutete, sprang Jil vor Schreck einen Schritt zurück. Cryson saß vor dem Fenster in einem gepolsterten Sessel. Seinen Kopf hatte er auf die Brust gelegt, aber Jil war sich sicher, dass er nicht schlief. Er trug ein weißes Hemd und eine dunkle Hose, die Schuhe waren frisch geputzt und die Haare zu einem seidig glänzenden Zopf gebunden.
»Wo bist du gewesen?«, fragte er mit seiner dunklen Stimme. Langsam hob er den Kopf und durchborhte Jil mit seinen hellgrünen Augen.
»Weshalb erschreckst du mich so?«, platzte es aus Jil heraus. »Kannst du nicht das Licht anmachen, wenn du hier schon ungebeten auf mich warten musst?«
Crysons Augen verengten sich. »Ungebeten? Hast du vergessen, dass dies mein Haus ist?«
Jil antwortete nicht. Sie setzte sich auf das Bett und bemühte sich um einen teilnahmslosen Eindruck. Cryson musterte sie von oben bis unten. Plötzlich fiel auch Jil auf, wie schmutzig und zerrissen ihre Kleidung war.
»Du hast dich in den verbotenen Gängen herumgetrieben, habe ich Recht?«, fragte Cryson.
Jil lief ein Schauer über den Rücken. In seiner Stimme lagen weder Wut noch Enttäuschung, aber gerade seine Nüchternheit ließ das Blut in ihren Adern gefrieren.
Er seufzte. »Es ist zwecklos, dir irgendwelche Vorschriften machen zu wollen. Ich habe dir mein Vertrauen erwiesen, indem ich dir einen Schlüssel zu meinem Haus überlassen habe, aber du trittst es mit Füßen.«
Jil zuckte die Achseln. »Ich habe doch nichts verbrochen. Weshalb regst du dich so auf?«
»Dir ist noch immer nicht bewusst, was du für mich… was du für mein Volk bedeutest, oder?« Cryson trommelte nervös mit den Fingerspitzen auf den Lehnen des Sessels.
»Ich bin mir dessen bewusst, und ich möchte euch helfen. Aber du solltest akzeptieren, dass ich ein freier Mensch bin.«
»Das kann ich aber nicht.« Die Schärfe in seiner Stimme ließ Jil zusammenzucken. Einen Moment lang blitzte das gelbliche Licht in seinen
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