Lichtfaenger 01 - Die Auserwaehlte
Augen auf. Seine Hände waren nun zu Fäusten geballt. Er atmete einmal tief durch, dann sank er im Sessel zurück. »Jil, du hast einfach keine Vorstellung davon, wie sehr ich leide. Wir sterben aus. Unsere ganze Hoffnung ruht auf dir.«
»Das weiß ich. Und ich werde dich nicht enttäuschen.« Jil hörte sich selbst diese Worte sprechen, als wären sie nicht ihrem eigenen Mund entsprungen. Nach einer schier unendlich langen Pause, in der Cryson mit geschlossenen Augen und aufeinander gepressten Lippen vor ihr saß, als kämpfe er mit den Tränen, fügte Jil hinzu: »Ich habe eure Notvorräte gesehen.«
Cryson öffnete die Augen. In seinem Blick waren keinerlei Emotionen abzulesen.
»War es das, was du bei der anderen Frau gesucht hast?«, fragte sie, als Cryson nicht antwortete. Jil machte sich nicht die Mühe, ihm mitzuteilen, dass sie von dem düsteren Geheimnis der Sedharym erfahren hatte. Er würde auch so wissen, was sie meinte.
Cryson nickte bedächtig. »Dieses Leben hier unten ist grausam. Es gibt nur wenige Freuden, die ich mir gönnen kann.«
Obwohl Jil seine Beweggründe nachvollziehen konnte, versetzte es ihr einen Stich. Trotzdem nahm sie all ihren Mut zusammen, um ihm eine weitere Frage zu stellen.
»Meinem besten Freund, ein Straßenmusiker, fehlt eine ganze Nacht in seiner Erinnerung. Es war die Nacht, als wir uns das erste Mal begegneten. Habt ihr auch ihm den Kopf gewaschen, wie es Liran nannte?«
Cryson antwortete nicht, aber ein schelmisches Lächeln huschte über seine Züge. Sein Blick verriet mehr als tausend Worte.
*****
Der unterste Knopf ihrer Bluse ließ sich gerade eben noch schließen. Der Stoff spannte unangenehm über ihrem Bauch.
Oh mein Gott, habe ich etwa zugenommen ?
Jil sah an sich hinab. Nun ja, sie war noch immer schlank, doch es ließ sich nicht leugnen, dass sie das ein oder andere Pfund zugenommen hatte. Das hatte sie eindeutig Cryson mit seinen üppigen Mahlzeiten und Leckereien zu verdanken! Es hatte ja so kommen müssen. Neulich hatte er sogar zu ihr gesagt, dass er froh sei, nun endlich kein Klavier mehr auf ihren Rippen spielen zu müssen. Sie hatte es für einen dummen Witz gehalten, doch wenn sie genauer darüber nachdachte, hatte er Recht. Ihre neuen weiblichen Rundungen gefielen ihr.
Jil seufzte und schnürte ihre nagelneuen Lederstiefel. Sie drückten unangenehm am Knöchel, doch Cryson meinte, das würde sich mit der Zeit legen. Jil hatte niemals in ihrem Leben neue Schuhe besessen. Als Kind hatte sie die alten Schuhe ihrer Schwester auftragen müssen, und auch später hatte sie nie das Geld für nagelneue Schuhe aufbringen können.
Jil fuhr mit dem Fahrstuhl hinunter in die Stadt. Die Langeweile würde sie eines Tages noch um den Verstand bringen. Es war so still in Crysons Wohnung, wenn er nicht da war. Ihr Verhältnis hatte sich in den letzten Tagen sichtlich entspannt, auch wenn Jil ihm immer noch mit Argwohn und Misstrauen begegnete. Cryson verließ seinen Turm oft und blieb ihm manchmal mehrere Tage fern. Niemals weihte er Jil in seine Pläne ein. Hatte sie ihn anfangs noch mit Fragen gelöchert, hatte sie es mittlerweile aufgegeben. Er war ein freundlicher und zuvorkommender Gentleman, jedoch von Geheimnissen unwittert, die er mit ihr nicht zu teilen bereit war. Jil akzeptierte diesen Umstand, was wäre ihr auch anderes übrig geblieben? Sie hatte nur noch Augen für das schmackhafte Essen, das Endra ihr brachte und all die anderen Annehmlichkeiten, von denen sie bislang immer nur träumen konnte. Wenn der Preis dafür nun einmal der war, dass man sie wie ein Kind behandelte, dann konnte sie durchaus damit leben. Wenn doch bloß diese ständige Langeweile nicht wäre!
Jil schlenderte durch die Straßen von Sedhia. Durch zahlreiche Erkundungsgänge hatte sie in Erfahrung gebracht, dass Sedhia sich gar nicht so sehr von einer »richtigen« Stadt unterschied. Es gab Wohnhäuser für die einfachen Bürger und Wohntürme für die reicheren Sedharym. Jil wusste nicht, wer die Stadt regierte und welche Gesetze hier herrschten. Es interessierte sie im Grunde auch nicht wirklich. Man respektierte sie und grüßte freundlich. Das allein zählte. Die Sedharym dieser Stadt waren freundlicher zu ihr als die Menschen von Haven. Jil lebte hier wie eine Königin, wenn auch wie eine Königin in einem goldenen Käfig. Aber nun ja, nichts war perfekt.
In Sedhia gab es sogar Geschäfte und Handwerksbetriebe. Es gab eine Werkstatt, die defekte Maschinen
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