Lichtfaenger 01 - Die Auserwaehlte
Schmuggler, die darin ihre große Chance sehen. Immer wieder werden Waren oder auch Menschen illegal hinüber gebracht. Ich weiß zwar nicht, was sich die Leute davon versprechen, aber manche riskieren sogar ihr Leben dafür, einmal den weißen Obelisken zu berühren.« Cryson stieß geräuschvoll die Luft aus. Jil wusste von dem Tempel mit dem weißen Obelisken, der auf einem Hügel über Falcon’s Eye thronte und dem angeblich große Macht innewohnte. Jil hatte nie das Bedürfnis verspürt, dem Wahrheitsgehalt dieses Aberglaubens auf den Grund zu gehen.
»Ich habe für dich eine Überfahrt organisiert«, sagte Cryson. »Du wirst zusammen mit einer Warenlieferung übersetzen. Dann wirst du auf dich allein gestellt sein. Du weißt, wo sich der Eingang zum Quartier der Vartyden befindet. Für dich als Mensch sollte der magische Schutzwall nicht von Bedeutung sein.«
Jils Körper fühlte sich plötzlich an, als befänden sich keine Muskeln mehr darin. Ihre Knie zitterten. Sie fühlte ihre sonst so grenzenlose Selbstsicherheit dahinschmelzen wie Schnee in der Sonne.
»Falls ich es wirklich schaffen sollte, mir Zugang zu ihren Räumlichkeiten zu verschaffen, wie soll ich dann dieses Licht finden? Ich weiß doch nicht einmal, wie es aussieht.«
Cryson küsste sie sanft auf die Stirn. »Ich weiß nicht, in welche Art von Gegenstand sie das Sedhiassa gebannt haben. Das musst du herausfinden.«
»Ist dir eigentlich bewusst, was du von mir verlangst?« Jils Stimme war nur noch ein Flüstern.
»Ich weiß, kleine Jil. Ich weiß. Wenn es einen anderen Weg gäbe, würde ich es nicht von dir verlangen. Ich kann dich nicht dazu zwingen.« Ihre Blicke trafen sich. In Crysons Gesicht spiegelten sich Traurigkeit und Schmerz. Jil antwortete ihm nicht, und selbst wenn sie es gewollt hätte, wäre sie nicht mehr dazu gekommen, denn Cryson küsste sie sanft auf den Mund. Diesmal spürte Jil keine Kälte in sich, sondern nur das aufkeimende Gefühl von Zuversicht und Begierde. Beinahe erwartete sie, dass er sich mit seinen Händen an den Knöpfen ihrer Bluse zu schaffen machte und sie auf das Bett stieß, doch seine Hände umfassten nur sanft ihren Nacken, während seine feuchte warme Zunge ihre Mundhöhle erkundete. Jil war innerlich bereits darauf gefasst, ihn notfalls mit ihrer ganzen Kraft von sich zu stoßen, falls er versuchen sollte, sie auf das Bett zu drücken. Sie wusste, dass es ihr nicht gelungen wäre, doch ihre Befürchtungen waren unbegründet. Er löste seine Lippen von ihr, zog die Hände zurück und lächelte sie bloß an.
»Leg dich jetzt schlafen«, sagte Cryson mit sanfter Stimme. »Du wirst morgen deine ganze Kraft benötigen. Wenn du zurückkehrst, nehmen wir uns alle Zeit der Welt. Dann verspreche ich dir, dass alles besser werden wird.«
Bevor er das Zimmer verließ, legte er etwas aus seiner Hosentasche auf den Schreibtisch. »Das ist das Geld, das ich den Schmugglern für die Überfahrt versprochen habe.«
Als sich die Tür hinter ihm schloss, blieb es still und kalt in Jils Bett.
*****
Der Sommer war merklich voran geschritten, Nebel hüllte die Dächer der Häuser in einen dichten weißen Umhang. Auch war es kühler geworden, seit Jil das letzte Mal die oberirdischen Straßen von Haven betreten hatte.
Sie zog sich die Kapuze ihres langen schwarzen Mantels tiefer ins Gesicht. Das helle Licht blendete sie. Mit einer Mischung aus Nervosität und Entschlossenheit hatte sie die mechanische Tür zum Reich der Sedharym hinter sich ins Schloss fallen lassen und die Straße betreten, die sie zurück nach Garnick, ihrer alten Heimat, führen würde.
Ihre Schritte hallten von den hohen Wänden der eng stehenden Häuser wider. So früh am Morgen waren nur wenige Menschen unterwegs, hinter den Schaufenstern der Geschäfte war es dunkel. Jil wusste weder welches Datum noch welcher Wochentag es war, aber dies würde zur Erfüllung ihrer Aufgabe auch nicht von Belang sein. Cryson hatte ihr am Morgen noch einmal erklärt, was genau sie zu tun hatte, und diesen Plan würde Jil zielstrebig verfolgen, bevor sie der Mut verlassen konnte. Geri, der Kopf der Schmugglerbande, würde im Hinterhof einer leer stehenden Metzgerei seine Wagen für die Überfahrt nach Falcon’s Eye vorbereiten. Er war es gewohnt, Menschen gegen Geld versteckt auf seinen Karren mitreisen zu lassen, deshalb sollte es für Jil kein Problem darstellen, relativ sicher ihr Ziel zu erreichen. Natürlich bestand ein gewisses Restrisiko, denn
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