Lichtfaenger 01 - Die Auserwaehlte
nicht einmal darüber nach, als sie in die Innentasche ihres Mantels griff und die Münzen hervorzog, die sie Geri als Vergütung für die Überfahrt nach Falcon’s Eye zahlen sollte. Sie drehte die Geldstücke ein paar Mal in der Hand, dann legte sie sie vor die Eingangstür. Als sie ein Rumpeln im Inneren der Küche vernahm, eilte Jil zurück zum Tor und rannte auf die Straße hinaus. Erst als sie sich mehr als hundert Yards entfernt hatte und um mehrere Häuserecken gerannt war, verlangsamte sie ihre Schritte. Sie wusste nicht, ob sie das richtige getan hatte. Sie durfte die Mission auf keinen Fall gefährden. Nun besaß sie kein Geld mehr, um sich eine Überfahrt zu erkaufen. Jil spuckte neben sich aus. Der Gestank dieses Viertels lag als fauler Geschmack auf ihrer Zunge. Vielleicht würde sie noch einmal stehlen müssen, wenn es die Umstände verlangten. Jil beschloss, Geri erst einmal aufzusuchen und dann nach einer Lösung ihres Problems zu suchen.
Jil kannte die verlassene Metzgerei, in deren Hinterhof angeblich die Schmuggler kampierten. Als Kind hatte sie oft dort gespielt. Einmal hatten sie sogar einen Nachbarsjungen über Nacht an einem der alten Fleischerhaken aufgehängt. Damals hatte es dort noch keine Schmuggler gegeben.
Jil blieb vor den eingeschlagenen Fensterscheiben des Ladenlokals stehen. Es war dunkel im Inneren des Verkaufsraumes. Er war vollkommen leer, eine dicke Staubschicht bedeckte den Boden. Es war kein einladender Ort, an dem man sich gerne aufhielt. Sie atmete noch einmal tief ein und stieg dann durch das zerstörte Schaufenster hinein. Die Tür zu den hinteren Räumen war nicht verschlossen. Jil ging mit gesenktem Kopf durch die Gänge. Sie bildete sich ein, dass es hier noch immer nach geronnenem Blut roch, obwohl das völlig unmöglich war. Seit fast dreißig Jahren verkaufte hier niemand mehr Fleisch. Schon als Kind war Jil der süßliche Geruch in diesen Räumen aufgefallen.
Jil stieß die Tür zum Hinterhof auf. Die Stimmen mehrerer Männer drangen an ihre Ohren. Mit allem Selbstbewusstsein, das sie aufbringen konnte, betrat Jil die von verlassenen Gebäuden an drei Seiten eingerahmte Terrasse der Metzgerei. Die vierte Seite wurde durch einen hohen hölzernen Zaun mit einer breiten Flügeltür begrenzt. Vor vielen Jahren hatte es hier gebrannt, im gesamten Block wohnte niemand mehr. Es war das ideale Versteck für eine Schmugglerbande.
Einer der drei Männer, die gerade damit beschäftigt waren, ein Pferd vor einen Heuwagen zu spannen, hob den Kopf, als er Jil erblickte. Jil fuhr ein Schreck durch die Glieder. Sie kannte diesen Mann. Er gehörte zu einer Diebesgilde, die Jil oft verfolgt hatte, wenn sie in ihrem Revier auf Beutesuche gegangen war. Dass er nun auch unter die Schmuggler geraten war, hatte Jil nicht gewusst. Sie hoffte inständig, dass er sie nicht erkannte. In diesem Moment war Jil froh, die große Kapuze noch nicht zurückgeschlagen zu haben.
»Wer bist du und was willst du?« Der Kerl klopfte dem Pferd auf die Schulter und kam auf Jil zu. Er war klein und hager. Er trug ein verwaschenes dunkelblaues Hemd, die fettigen dunklen Haare klebten an seiner Stirn. Sein Gesicht war wettergegerbt und faltig. Die anderen beiden Männer unterbrachen ihre Arbeit und beäugten Jil mit kritischen Blicken.
»Ich brauche eine Überfahrt nach Falcon’s Eye«, sagte Jil mit fester Stimme.
»Soso, eine Überfahrt also.« Die kleinen trüben Augen des Mannes suchten unter Jils Kapuze nach einem Gesicht, doch Jil senkte den Kopf ein wenig und starrte auf ihre Füße.
»Weshalb wohl möchte eine junge Frau nach Falcon’s Eye gelangen? Deine Kleidung ist einfach, aber sauber und von guter Qualität. Für gewöhnlich sind es die gescheiterten Existenzen, die ich rüber auf die Insel bringe.«
»Mein Anliegen hat Sie nicht weiter zu interessieren«, sagte Jil. »Ich muss nach Falcon’s Eye und ich werde dafür bezahlen.«
»Woher willst du wissen, dass wir dich hinüber bringen können? Nur wenige Menschen kennen uns. Wer war dein Informant?«
Jil spürte, wie ihre Hände feucht wurden. Sie fürchtete sich zwar nicht vor dem Wicht, aber sie waren zu dritt und hier hinten im Hof hätte wohl niemand Jils Schreie gehört, falls sie versuchten, sich ihrer zu entledigen. Jil wusste, wie skrupellos dieser Kerl bei seinen Raubüberfällen vorging, er würde sicher nicht vor einem Mord zurückschrecken.
»Ein guter Freund hat mir den Tipp gegeben. Wollt ihr mich nun auf die Insel
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