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Lichtfaenger 01 - Die Auserwaehlte

Lichtfaenger 01 - Die Auserwaehlte

Titel: Lichtfaenger 01 - Die Auserwaehlte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kuehnemann Nadine
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sporadisch kontrollierten die Wachen auf Falcon’s Eye die Wagen und deren Inhalt. Geri jedoch sei bislang noch nie erwischt worden. Jil fürchtete sich nicht, auch für sie waren Gesetzesüberschreitungen kein Neuland. Sie hatte es bislang immer geschafft, sich aus brenzligen Situationen zu befreien. Was ihr allerdings mehr Unbehagen bereitete als die Überfahrt nach Falcon’s Eye war die Aufgabe, die sie dort erwartete. Jil hatte sich keinen Plan zurechtgelegt. Sie wusste zwar, wo sich der Eingang zum Hauptquartier der Vartyden befand, doch wie sie dort hinein gelangen, geschweige denn das Sedhiassa finden sollte, war ihr trotz stundenlangen Grübelns immer noch ein Rätsel. Egal wie sie es anstellte, die Vartyden durften keinen Verdacht schöpfen.
    Kling kling .
    Jil zuckte vor Schreck zusammen. Das Geräusch der Glocke an der Pferdebahn, die auf ihrer Linie von der Innenstadt nach Garnick unterwegs war, war ihr einst so vertraut gewesen, doch nach einem Monat unter der Erdoberfläche hatte sich Jils Wahrnehmung drastisch gewandelt. Zischende und ratternde Geräusche hatten dort zu ihrem Leben gehört, bimmelnde Glocken gab es in Sedhia nicht.
    Jil hob den Blick. Der Mann, der vorne auf dem Bock saß und die Zügel knallen ließ, zog zum Gruß seinen Hut, als die Bahn an Jil vorbei ratterte. Es war die erste Bahn des Tages, es saßen nur zwei Menschen darin. In Garnick gab es noch keine elektrischen Stromleitungen, sodass die modernen Straßenbahnen dort nicht verkehrten. Erst vor zwei Jahren hatte man das Schienennetz in Garnick ausgebaut, wahrscheinlich würden auch dort bald die Pferdebahnen dem technischen Fortschritt weichen.
    Als Jil die breite Hauptstraße betrat, die ringförmig durch ihr Heimatviertel Garnick führte, packte sie ein kurzer Anflug von Schwermut, der jedoch sogleich wieder verblasste. Die roten Backsteinhäuser mit den bunten Fensterläden, die Obstwiesen und staubigen Straßen wirkten zwar vertraut, gleichzeitig vermisste Jil jedoch das Gefühl von Heimweh in sich. Nichts als Leere füllte sie aus, wenn sie den Blick über die einförmigen kleinen Häuser schweifen ließ, deren Bewohner einst ihre Nachbarn gewesen waren. Was war nur mit ihr geschehen? Wo war diese Unbeschwertheit, mit der sie früher durch diese Straßen gestreift war?
    Jil beschloss, einen Umweg in Kauf zu nehmen. Vielleicht würde der Anblick ihres damaligen Wohnhauses das alte Lebensgefühl in ihr wiedererwecken können. Jil wusste selbst nicht, weshalb ihr etwas daran lag. Nüchtern betrachtet war es keine Schande, sich nicht zurück in dieses Elendsviertel zu sehnen. Trotzdem plagte sie ein schlechtes Gewissen, und das fehlende Heimweh schockierte sie beinahe. Sie hatte nie viel Liebe für irgendwen oder irgendetwas empfunden, aber dass ihre Rückkehr gar keine Emotionen in ihr weckte, verwunderte selbst Jil.
    Sie verließ die Hauptstraße und steuerte zielstrebig auf das Anwesen der Familie Tevell zu. Es war nur einen Katzensprung entfernt, Cryson würde niemals erfahren, dass sie von ihrem Weg abgekommen war. Und sicherlich würde Geri noch ein paar Minuten länger auf sie warten können.
    Als Jil in die schmale Gasse einbog, in der sich das Haus ihres Vaters befand, rümpfte sie die Nase. Hatte es hier schon immer so widerwärtig gerochen, oder war ihr Geruchssinn bloß verwöhnt von dem ganzen Luxus, den sie in Sedhia genossen hatte? Jil zog die Kapuze noch tiefer ins Gesicht. Unter keinen Umständen wollte sie erkannt werden. Ihr Vater und ihre Schwester dachten vermutlich, sie hätte sich aus dem Staub gemacht.
    Es sollte sie nicht verwundern. Dies ist eine erbärmliche Art zu leben. Wie habe ich es überhaupt so lange hier ausgehalten?
    Jil blieb vor dem kleinen Eisentor, das zum Vorgarten führte, stehen. Es war verschlossen, das Haus lag einsam und still da. Wäsche hing im Hof auf der Leine. Die Fensterläden waren geschlossen. War es tatsächlich noch so früh, oder hatte Dana verschlafen? Vielleicht war sie krank?
    Wenn Jil auch nicht das Gefühl von Heimweh in sich wecken konnte, so spürte sie nun dennoch etwas: Abscheu und Bestürzung. Oder war da etwa auch ein Funken Mitleid? Einen Augenblick lang spielte sie mit dem Gedanken, an die Tür zu klopfen und so zu tun, als sei sie niemals fort gewesen, doch zu groß war die Abneigung vor der Armut.
    Jil griff nach dem Riegel des Tores und schob ihn langsam zur Seite. So geräuschlos wie möglich stieß sie das Tor auf und betrat den Vorgarten. Sie dachte

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