Lichtfaenger 01 - Die Auserwaehlte
tatsächlich eine Antwort darauf geben. Sie schloss die Augen und dachte angestrengt nach. Um sie herum hörte sie Stimmen, das Wiehern von Pferden und das Gepolter weiterer Wagen, die man über den Steg an Bord brachte. Jil befand sich auf einer Mission, die zum Scheitern verurteilt war. Sie riskierte ihr Leben für eine Sache, die sie selbst nichts anging. Oder etwa doch? Die Erkenntnis schmeckte bitter auf ihrer Zunge. Seit sie ihr verkommenes Elternhaus in der stinkenden Gasse von Garnick besucht hatte, war ihr klar geworden, dass sie dies alles hier nur für sich selbst tat. Wie gut hatte es getan, in einem warmen Zimmer zu wohnen, in einem weichen Bett zu schlafen und morgens so lange liegen zu bleiben, bis ihr der Rücken schmerzte. Ihre Haut war rosig geworden, seit sie wieder warme Mahlzeiten zu sich nahm. Neben diesem elementaren Egoismus gab es noch ein weiteres Argument, das für den Versuch sprach, diese Mission erfolgreich abzuschließen: Der Hass in ihr. Der Hass auf die Vartyden. Noch immer spukten Jil die Bilder dieser entsetzlichen Nacht im Kopf herum, als sie den blutigen Kampf mitansehen musste. Jil spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Sie hätte aufgeben und Cryson mitsamt seinem Luxus hinter sich lassen können, und dennoch saß sie nun auf diesem Karren und steuerte einem wahrscheinlichen Tod entgegen. Und das alles nur für ein warmes Bett und die Befriedigung von Rachegelüsten. Jils Gedanken drehten sich im Kreis. Gab es denn wirklich nichts Ehrbares in ihr? Was war mit Cryson? Tat sie ihm nicht aus Liebe und Mitgefühl diesen Gefallen? Jil kannte die Antwort bereits, bevor sie sich selbst diese Frage gestellt hatte. Sie liebte überhaupt niemanden. Sie begehrte ihn, aber sie liebte ihn nicht. Also blieb doch wieder nur der Egoismus übrig…
Plötzlich schaukelte das Boot. Jil wurde aus ihren Gedanken gerissen. Sie hörte das Plätschern der Wellen, die gegen den Schiffskörper schlugen. Jil hob die Plane erneut ein winziges Stück an. Das Ufer entfernte sich langsam, aber stetig. Der Fahrtwind kühlte ihren überhitzten Körper ein wenig. Das Wetter war gut, nur wenige Wolken trübten diesen Spätsommertag.
Jil verlor das Zeitgefühl. Sie schätzte, dass sie mehr als eine halbe Stunde lang unterwegs waren, als das Boot jäh an Geschwindigkeit verlor. Jemand riss das Ruder herum und sie fuhren in eine scharfe Kurve. Die Häuser, die am Ufer von Falcon’s Eye auf einem Felsvorsprung thronten, waren nun schon ganz nah. Bislang kannte Jil sie lediglich als schwarze Punkte am Horizont. Niemals hätte sie geglaubt, jemals einen Fuß auf diese Insel zu setzen.
Die Matrosen riefen sich Befehle zu, Ruder wurden zu Wasser gelassen. Langsam steuerten sie auf einen Anlegesteg zu. Jil starrte die prachtvollen Häuser mit offenem Mund an. Sie waren reich verziert und mit prunkvollen Giebeln und riesigen Eingangstüren ausgestattet. Jil hatte so etwas nie zuvor gesehen. Dieser Pomp sprengte ihre Vorstellungskraft.
Der Wagen setzte sich rumpelnd in Bewegung und die wunderschönen Fassaden verschwanden aus Jils Sichtfeld. Über den Steg ging es wieder zurück an Land. Jil war froh, dass das Geschaukel auf See endlich ein Ende hatte. Die Zügel knallten. Emil hatte seinen Platz auf dem Bock wieder eingenommen.
Sie fuhren über eine asphaltierte Straße, die zu beiden Seiten von Ahornbäumen gesäumt wurde. Jil hörte in der Ferne ein Knattern und Surren. Hastig suchte sie ihr eingeschränktes Blickfeld mit den Augen ab. Das Surren wurde lauter. Ein Automobil fuhr auf der Gegenfahrbahn an ihnen vorbei. Jil reckte den Hals, um ihm so lange wie möglich hinterher zu sehen. Ein streng gescheitelter Mann im Anzug saß auf dem Fahrersitz. Ein Automobil war in Haven ein seltener Anblick. Nur die ganz Reichen konnten sich so etwas leisten.
Jil wagte es, die Plane ein Stück weiter anzuheben. Sie grub ihren Kopf nun gänzlich aus dem Heu. Jil wusste, dass sie sich auf einer Allee befanden, die einmal um die gesamte Insel herum führte. Mehrere Stichstraßen führten von dort aus ins Zentrum, wo es einen großen Marktplatz gab. Jil hatte tagelang die Karten von Falcon’s Eye studiert und kannte jeden Winkel ihrer Umgebung auswendig, zumindest auf dem Papier. Dass die Realität auf eine so wundervolle Art vollkommen anders aussah als in ihrer Vorstellung, erfüllte Jil mit Ehrfurcht.
Sie würde ihre Suche nach dem Sedhiassa am Weißen Obelisken starten, in dessen Nähe sich der Eingang zum Quartier der
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