Lichtfaenger 01 - Die Auserwaehlte
sie auch seit Wochen nicht gesehen, aber wir Vagabunden sind unstet wie das Wetter im April. Ich habe mir nichts dabei gedacht. Sie wird sicher bald nach Hause kommen.«
Mit einem Mal hatte Dana kein Verständnis mehr für die Unbekümmertheit des Straßenmusikers. Wie konnte er nur mit einem Grinsen im Gesicht dasitzen, während Jil vielleicht etwas zugestoßen war?
»Ich werde jetzt gehen.« Dana machte auf dem Absatz kehrt und rannte davon, ohne sich noch einmal nach Firio umzudrehen. Sie war davon ausgegangen, dass Jil die Familie aus freien Stücken verlassen hatte, um sich ein eigenes Leben aufzubauen. Sie wusste, dass Jil all ihre Sorgen immer mit Firio geteilt hatte. Wenn er sie ebenfalls seit Wochen nicht gesehen hatte, steckte Jil vielleicht doch in Schwierigkeiten. Vielleicht hatte man sie sogar ins Gefängnis gesperrt. Danas Welt brach zusammen wie ein Kartenhaus. Jil war immer die starke Persönlichkeit der Familie gewesen, Dana hatte ihre jüngere Schwester trotz ihres unsittlichen Benehmens für ihre Selbstsicherheit verehrt und bewundert. Wenn selbst sie sich nicht hatte schützen können, dann waren auch Danas Chancen gering, in dieser Welt zu bestehen.
Erst als ihre Lungen brannten, blieb Dana stehen. Sie befand sich in einer Umgebung, in der sie sich nicht auskannte. Vor ihr lag ein länglicher gepflasterter Platz, der von zwei parallel verlaufenden Straßen eingegrenzt wurde. Kleine Geschäfte mit bunten Markisen reihten sich wie Perlen an einer Schnur längs der beiden Straßen auf. Obst, Gemüse, Blumen und Stoffe stapelten sich davor auf Tischen, die bis weit in den Gehsteig hinein ragten. Dies schien ein Wohnviertel des Mittelstands zu sein. Die Dächer der Häuser waren hoch und spitz, anders als die flachen Bauten in der Innenstadt. Ein steinerner Brunnen, in dessen Mitte das Abbild eines riesigen Fisches Wasser in das umliegende Becken spie, zog die Blicke auf sich. Kinder balancierten auf der Umrandung des Wasserbeckens und bespritzten sich vergnügt mit Wasser.
Dana überquerte die Straße und betrat den gepflasterten Platz. Mehrere Sitzbänke, alle mit Blick auf den riesigen Wasser speienden Fisch, waren darauf verteilt. Neben dem Brunnen gab es noch eine schwarze Wasserpumpe aus Metall. Als die Kinder sie betätigten, um sich auch mit deren Wasser nass zu spritzen, eilte eine korpulente Frau mit Kopftuch und Schürze herbei, schimpfte und stieß eines der Kinder an der Schulter von der Pumpe weg. Vermutlich war sie seine Mutter. Das Kind heulte und jammerte, aber die Dicke griff nach der Hand des kleinen Mädchens und zerrte sie unnachgiebig hinter sich her, bis die beiden hinter einer Häuserecke verschwunden waren.
Dana setzte sich auf eine der Bänke und genoss die wärmenden Sonnenstrahlen dieses Spätsommertages. Es war ein idyllischer Ort, sogar einige Kübel mit bunten Blumen hatte man aufgestellt, eine willkommene Abwechslung für das Auge. Dana stand der Sinn jedoch nicht nach einem friedvollen Nachmittag, sie kam innerlich kaum zur Ruhe. Pausenlos kreisten ihre Gedanken um Jil und um ihre eigene Zukunft. Vielleicht hatte Jil die Stadt verlassen. War es denn wirklich ein schlechtes Zeichen, bloß weil Jil ihren besten Freund, den Straßenmusiker, nicht in ihre Pläne eingeweiht hatte?
Egal, wie lange Dana auch darüber nachdachte, sie würde sich selbst keine befriedigende Antwort geben können. Sie hatte überreagiert, als sie wie eine Geisteskranke durch die Stadt gerannt war. Es gab keine Beweise für Jils Tod oder ihre Gefangenschaft, und auch Firios Unwissenheit war kein Indiz. Dana ermahnte sich selbst zur Ruhe. Jetzt kam es darauf an, besonnen zu handeln.
Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und glättete die Falten in ihrem Kleid. Es war doch lächerlich, wie ein kleines Kind immer nur davonzulaufen. Sie musste handeln, sonst würde es ein unschönes Ende mit ihr nehmen. Jil hätte auch niemals aufgegeben.
Ein Mann näherte sich. Er zog grüßend seinen Hut und ließ sich neben Dana auf der Bank nieder. Er trug einen Gehrock, darunter ein wollweißes Hemd und eine dunkelbraune Stoffhose mit Bügelfalte. Sein Haar war ergraut, ein Oberlippenbart zierte sein Gesicht. Er trug einen schwarzen Lederbeutel bei sich, den er neben sich auf den Boden stellte. Dann zog er eine Zeitung aus der Innentasche seiner Jacke, schlug die Beine übereinander und begann zu lesen. Dana fühlte sich neben ihm wie eine zerlumpte Bettlerin. Sie schämte sich.
Nach einer Weile
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