Lichtfaenger 01 - Die Auserwaehlte
»Ich muss unbedingt wissen, woher Sie diese Flöte haben. Sie hat einst meiner Schwester gehört. Ich muss sie unbedingt finden.«
Der hagere Kerl runzelte die Stirn, bevor sich ein verschlagenes Lächeln in sein Gesicht schlich. »Ich habe es tatsächlich von einer jungen Dame bekommen, sie tauschte es gegen eine Überfahrt nach Falcon’s Eye ein.«
»Nach Falcon’s Eye?« Dana hätte mit allem gerechnet, doch dass ihre Schwester so vermessen sein könnte, ihr Glück auf einer Insel zu suchen, die eher einer Kaserne als einer Stadt glich, überstieg Danas Vorstellungskraft.
»Ja, du brauchst mich nicht so dämlich anzuglotzen, ich sage die Wahrheit! Du musst wissen, dass ich gegen Bezahlung solche Überfahrten organisiere. Die meisten Pilger, die den Weißen Obelisken besichtigen möchten, kommen zuerst zum alten Geri.«
»Wie lange ist das her?« Dana spürte Hoffnung in sich aufsteigen, aber auch Sorge. Wenn es stimmte, was Geri erzählte, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass man Jil gefasst und ins Gefängnis gesteckt hatte. Es war wahnsinnig, sich als illegaler Einwanderer längere Zeit auf Falcon’s Eye verstecken zu wollen.
»Das ist noch nicht lange her. Wenn ich ehrlich sein soll, war es erst heute Morgen«, sagte Geri.
Danas Augen weiteten sich. Jil war erst heute Morgen nach Falcon’s Eye gefahren? Das bedeutete, dass sie lebte! Aber wo hatte sie sich dann all die Wochen herumgetrieben? Sie hatte sogar den Kontakt zu Firio abgebrochen.
»Heute Morgen?« Ein Schwindelanfall überwältigte Dana, sie taumelte einige Schritte zurück, bis sie sich wieder gefasst hatte. »Bitte, Sie müssen mich auch nach Falcon’s Eye bringen. Ich muss meine Schwester finden. Sie ist in großer Gefahr.«
»Und was bietest du mir dafür?«, fragte Geri nüchtern. Er schien keinerlei Notiz davon zu nehmen, dass Dana innerlich aufgewühlt und am Ende ihrer nervlichen Kräfte war.
Die Erkenntnis schlug ein wie ein Blitz. Dana hatte nicht einmal das Geld, um sich etwas zu essen zu kaufen. Es war ungerecht, dass ihr Glück und ihre Hoffnung von ein paar Münzen abhängen sollten.
»Können Sie nicht eine Ausnahme machen? Ich habe nichts.«
Geri lachte. »Schätzchen, nichts auf der Welt ist umsonst. Du verschwendest meine Zeit. Komm wieder, wenn du mindestens drei Schillinge gespart hast.«
»Gibt es keine andere Möglichkeit? Ich flehe Sie an.« Danas Stimme kippte, sie kämpfte mit den Tränen.
Geri ließ sich mit einer Antwort quälend viel Zeit. Er verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Dana von Kopf bis Fuß. Er schien ein echter Fiesling zu sein, Dana hasste ihn von ganzem Herzen. Doch er war der Einzige, der ihr helfen konnte, deshalb verkniff sie sich einen angewiderten Gesichtsausdruck.
»Ich selbst mache keinen Finger krumm ohne entsprechende Bezahlung«, sagte er schließlich. »Aber ich bin nicht der Einzige, der gelegentlich Menschen nach Falcon’s Eye schmuggelt. Am Hafen, auf dem ehemaligen Anwesen der Familie Darley, soll ein Fischer leben, der seinen Fang regelmäßig nach Falcon’s Eye fährt. Habe gehört, er nimmt ab und an auch Pilger mit nach drüben. Vielleicht kannst du ihn mit deinem Gebettel erweichen.« Mit diesen Worten wandte Geri sich ab und trottete die Straße entlang, den gestohlenen Beutel unter dem Arm. Er pfiff ein fröhliches Lied.
*****
Das Grundstück der Darleys hob sich markant von den umliegenden Gebäuden ab. Es lag in einer ruhigen Straße, nur wenige Gehminuten von den Anlegeplätzen der Fischer im Hafen entfernt. Die Familie war seinerzeit stadtbekannt gewesen, jeder wusste, wo sich das alte marode Gebäude mit den zahllosen Erkern und Balkonen befand. Als Dana vor dem Tor stand, ließ sie ihren Blick über den verwaisten und von Unkraut überwucherten Hof gleiten. Es war kein heimeliger Ort. Dana konnte sich nicht vorstellen, dass hier tatsächlich jemand lebte. Vielleicht hatte Geri sie auf den Arm nehmen wollen.
Ein großer Teil des Anwesens war vor Jahrzehnten abgebrannt. Die Darleys waren in den Flammen umgekommen, ihr gesamter Besitz war in die Hände ihres Neffen gefallen, der als Industrieller eine riesige Fabrik in London besaß und keinerlei Interesse daran zeigte, das Anwesen zu bewohnen oder zu pflegen. Dana hatte die Geschichten gehört, die sich die Marktfrauen über ihn erzählten. Wahrscheinlich war es dem Erben sogar recht, wenn er das verfallene Gebäude noch vermieten und zu Geld machen konnte. Doch wer würde freiwillig hier
Weitere Kostenlose Bücher