Lichtfaenger 01 - Die Auserwaehlte
Situation die einzig richtige Entscheidung war, aber eine maßlose Angst hinderte sie daran, sie in die Tat umzusetzen. Sie brachte nicht den Mut auf, sich zu stellen. Sie war immer diejenige innerhalb der Familie gewesen, die sich am wenigsten zu schulden hatte kommen lassen. Sollte ausgerechnet sie jetzt den Rest ihres Lebens im Gefängnis verbringen? Es war so ungerecht. Weshalb nur war Jil ohne sie fort gegangen? Sie hätten gemeinsam ein neues Leben anfangen können. Dana redete sich immer noch gerne ein, dass Jil aus freien Stücken die Familie verlassen hatte. Dana wollte und konnte nicht glauben, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte. Sie hatte Jil doch immer so für ihre Selbstständigkeit bewundert.
Heiße Tränen flossen ihre Wangen hinab. Dana senkte den Kopf, bis die dunkelbraunen Locken ihrer Haarpracht ihr Gesicht verdeckten. Wenn sie nicht acht gab, würde sicher bald jemand einen Arzt rufen und sie in eine Nervenheilanstalt einweisen lassen.
Dana zog geräuschvoll die Nase hoch und wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Eine Straßenbahn ratterte um die Kurve. Einen Moment lang verspürte Dana den Impuls, sich auf die Schienen zu werfen.
Der Schmerz über die eigene ausweglose Situation ballte sich in ihren Eingeweiden. Sie glaubte zu spüren, wie die schwelende Angst sie von innen heraus zu zerfressen begann. Dana begann zu zittern, als leide sie unter Schüttelfrost. Ihr war nicht kalt, aber das Trauma und die ständigen Panikanfälle forderten ihren Tribut. Übelkeit stieg in ihr auf, sie würgte. Ihr Magen war vollkommen leer.
Plötzlich hörte sie direkt neben sich ein klimperndes metallisches Geräusch. Dana wandte den Kopf. Neben ihr stand eine Frau, die hastig in einem kleinen Beutel kramte. Zwischen ihr und Dana lag ein silbernes Geldstück auf dem Boden. Wie von Marionettenfäden getragen setzte Dana einen Fuß zur Seite und begrub das Geldstück unter ihrer Schuhsohle. Die Frau hing sich den Beutel über die Schulter, vergewisserte sich, ob keine Kutsche oder Straßenbahn ihren Weg kreuzte, und eilte dann über die Straße. Dana blickte ihr hinterher, bis sie hinter einer Häuserecke verschwunden war. In unendlicher Langsamkeit bückte Dana sich nach dem Geldstück unter ihrem Fuß. Es war ein Sixpence, genug, um davon etwas zu essen zu kaufen.
Ich hätte es der Frau zurückgeben müssen .
Schuldgefühle breiteten sich in Dana aus wie Gift. Sie hatte gestohlen. Sie hatte gegen ein weiteres Gebot Gottes verstoßen.
Es war kein Diebstahl. Ich habe es gefunden .
Dana steckte das Geldstück in ihre Rocktasche. Wenn sie nicht tatsächlich vorhatte, sich vor die nächste Straßenbahn zu werfen, würde ihr gar nichts anderes übrig bleiben, als zu stehlen. Die Erkenntnis schmeckte bitter. Zudem war sie eine feige Mörderin, Diebstahl würde das Strafmaß sicherlich nicht noch weiter heraufsetzen. Lebenslang blieb lebenslang. Und Hölle blieb Hölle.
Langsam setzte Dana sich in Bewegung und überquerte die Straße. Ihre Beine fühlten sich vom langen Stehen steif an. Sie kaufte sich in einem Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine heiße Dampfnudel. Nicht ohne schlechtes Gewissen verschlang Dana sie innerhalb von Sekunden. Augenblicklich fühlte sie sich gestärkt, selbst ihr eingerosteter Verstand schien plötzlich wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Jil hatte die Menschen immer bestohlen, was konnte so schwierig daran sein?
Dana nahm all ihren Mut zusammen und schlenderte auf der Suche nach einem ersten Opfer durch die Straßen. Sie konnte selbst nicht glauben, was sie in Begriff war zu tun.
Sie erreichte eine Gegend, in der sich bedeutend weniger Menschen drängten. War es klüger, hier auf Opfersuche zu gehen? Im Gedränge wäre es sicherlich einfacher gewesen, jemanden um sein Geld zu erleichtern, aber dort war auch das Risiko größer, gefasst zu werden. Wie wollte Dana es überhaupt bewerkstelligen, unbemerkt zu stehlen? Jils jahrelange Erfahrung fehlte ihr. Ihre Schwester hätte sicherlich gewusst, wie man es am besten anstellte. Dana legte den Kopf in den Nacken und sah nach oben. Die Häuser wiesen allesamt drei oder vier Stockwerke auf, zahllose Fenster blickten aus schwarzen Löchern auf sie herab. Die schmale Gasse war lang und bot keinerlei Verstecke. Wenn sie entdeckt würde, wäre Dana darauf angewiesen, sehr schnell zu laufen. Sie seufzte. Wieder einmal stiegen ihr die Tränen in die Augen. Sie war unsportlich und ungeschickt.
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