Lichtfaenger 2 - Bruderkrieg
mit einem Seufzer nach. »Die Ereignisse beschäftigen die Ermittlungskommission von Scotland Yard jetzt schon seit mehreren Wochen, aber bislang bleibt weiterhin unklar, inwiefern das plötzliche Auftauchen tausender gestrandeter Menschen zwanzig Meilen südöstlich von Sandsgate mit den mysteriösen Leichenfunden an ebendiesem Ort in Zusammenhang stehen. Akuter Platzmangel in Gefängnissen, Krankenhäusern und Nervenheilanstalten nötigt Städte und Kommunen dazu, Hilfe aus dem Ausland anzufordern. Obwohl alle Insassen mittlerweile zweifelsohne als Briten identifiziert werden konnten, sind sie in keinerlei öffentlichen Melderegistern registriert. Allen ist jedoch gemein, dass sie sich an keine Ereignisse ihres früheren Lebens erinnern. Des Weiteren stießen die Ermittler auf zahlreiche Leichen, die in einem Gebiet von drei Meilen Durchmesser verteilt an der Küste bei Sandsgate gefunden wurden. Die Ereignisse haben eine Welle der Angst ausgelöst, viele glauben an ein groß angelegtes Projekt von Gehirnwäsche, aber auch die Stimmen zahlreicher Gläubiger und Esoteriker, die an ein übersinnliches Phänomen glauben, werden immer lauter. Was hat sich wirklich dort abgespielt? Sachdienliche Hinweise bitte an jede Polizeidienstelle.« Ray legte die Zeitung zurück auf den Tisch. »Ich halte das für sehr beunruhigend.«
Jil kaute auf ihrer Unterlippe. Eine Weile lang war es den Ermittlern gelungen, die Geschichte unter Verschluss zu halten, aber wie versteckt man tausende geistig Verwirrte dauerhaft vor der Öffentlichkeit?
»Willst du ihnen nicht die Wahrheit erzählen?«, fragte Jil und wandte sich an Liam. Sie wusste, dass es ein törichter Vorschlag war.
Liam stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Ich bin jetzt Journalist und Fotograf, ich mische mich da nicht ein. Außerdem haben die kein Bett mehr frei für noch einen weiteren Irren, für den sie mich sicherlich halten würden.«
»Ich denke, dass man früher oder später ohnehin der Wahrheit recht nahe kommen wird«, sagte Cole. »Immerhin werden sie irgendwann die Überreste von Sedhia und Varyen finden. Diese Dinge unterlagen nämlich keinem faulen Zauber. Spätestens wenn sie das erste Wrack eines Latris oder Kevels aus dem Wasser ziehen, gehen die Diskussionen von vorn los. Und dann bricht irgendwann wirklich Panik aus.«
Ray stieß ein tiefes Knurren aus und schob seinen Stuhl geräuschvoll zurück. »Ich frage mich, ob es etwas an der Situation geändert hätte, wenn der automatische Gedächtnisverlust bei den Einwohnern von Haven mit dessen Auflösung nicht eingesetzt hätte.«
»Ich denke, dann wäre die Panik noch sehr viel größer«, sagte Liam. »Immerhin kann ein menschlicher Verstand solche Dinge nicht begreifen.«
Jil stieß Ray, der bereits in Begriff war, sich zu erheben, sanft mit dem Ellenbogen an. »Ich habe doch auch nichts vergessen.«
Ray zog eine Augenbraue hoch und brachte ein müdes Lächeln zustande. »Dass der Zauber bei dir nicht wirkt, haben wir doch hinreichend ausprobiert. Du weißt doch genau, weshalb das so ist.« Natürlich. Wie hatte sie das Mal an ihrer Hüfte vergessen können.
Ray verabschiedete sich mit einem Kopfnicken von seinen Mitbewohnern und verließ den Salon. Nur Sekunden später hörte Jil, wie die Tür seines Schlafzimmers zufiel. Sie wusste, dass Ray sich den Rest des Tages dort verschanzen und nachgrübeln würde. Er trug schwer an der Last seiner Schuld, die noch immer zwischen ihnen stand. Seufzend erhob auch Jil sich und trat auf den Flur. Sie verspürte den kurzen Impuls, Ray in sein Zimmer zu folgen und sich der Wärme seiner Umarmung hinzugeben, verwarf den Gedanken jedoch. Er brauchte Zeit. Sie brauchte Zeit. Die Dinge waren zu kompliziert. Jil betrat stattdessen ihr eigenes Zimmer, das plötzlich kalt und verlassen auf sie wirkte. Sie ging zum Fenster herüber und blickte auf die dunklen Straßen von London. Im Osten graute der Morgen. Sie gähnte, doch sie wollte sich nicht in ihr Bett legen und schlafen. Albträume quälten sie jede Nacht.
Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel und tropfte auf die Fensterbank. Würde sie je vergessen können?
Nadine Kühnemann
wurde am 21.02.1983 in Dinslaken am Niederrhein geboren und ist ihrer Geburtsstadt bis heute treu geblieben. Nach dem Abitur studierte sie Biologie in Düsseldorf und Bochum und schloss ihr Studium mit einem Diplom im Jahr 2008 ab. Heute arbeitet sie als Laborantin bei einem Blutspendedienst. Schon immer begeisterte
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