Lichtfaenger 2 - Bruderkrieg
kannst es einfach nicht lassen. Glaubst du etwa, ich hätte dich nicht beobachtet?«
Jil fühlte sich ertappt. Natürlich hatte sie hier und dort eine Geldbörse illegal in ihren Besitz gebracht. London war ein Paradies für Gauner und Taschendiebe. Das gestohlene Geld war in der Tat nicht nötig, um ihr neues Leben zu finanzieren, aber es juckte sie einfach in den Fingern. Nola, Liam und Cole verdienten mit ihren Jobs genügend Geld, um die Großstadtwohnung im besten Viertel zu bezahlen, und auch Ray bekam für seine Detektivarbeit, bei der er sich gelegentlich die Hände schmutzig machen musste, das eine oder andere Pfund Sterling. Jil war mehr als glücklich darüber, dass sie sich dazu entschlossen hatte, Ray nach London zu folgen. Und noch glücklicher war sie gewesen, dass er sein Versprechen gehalten und sie wieder bei sich aufgenommen hatte. Bislang hatte sie es nicht bereut. Ray war noch immer der verbitterte alte Miesepeter, der sich selbst die Schuld an Allem gab, aber sie liebte seine Eigenarten. Natürlich hatte die Vergangenheit ihr Verhältnis zueinander getrübt, aber Jil war guter Dinge, dass sie darüber hinwegkommen würden. Sie quälten nachts furchtbare Alpträume, aber tagsüber setzte sie alles daran, nicht über die vergangenen Ereignisse nachzudenken. Sie sprachen auch niemals darüber. Nola, Liam und Cole behandelten sie höflich, wenn auch nicht mit der Herzlichkeit guter Freunde. Sie hatten nie danach gefragt, weshalb Ray Jil erlaubt hatte, bei ihnen zu wohnen, man stellte seine Entscheidungen schlichtweg nicht infrage. Vermutlich war er froh darüber. Jil hatte sogar ihr eigenes Zimmer bekommen, die riesige Wohnung war groß genug. Drei Monate waren seit der Zerstörung Havens vergangen, und das war eindeutig zu wenig Zeit, um eine Freundschaft, geschweige denn eine Liebesbeziehung, neu aufzubauen. Trotzdem konnte sich Jil lebhaft an Rays Gesicht erinnern, als sie eines Tages vor ihm gestanden und ihn gebeten hatte, ihr Obdach zu gewähren. Verwunderung, aber auch ein Anflug von Freude und Erleichterung hatten aus seinen Augen gesprochen.
Nach einem langen Marsch durch die Londoner Nacht hatten sie ihr Ziel endlich erreicht. Ray drehte den Schlüssel zur Wohnung im Schloss herum. Er zögerte einen Moment, ehe er nach der Klinke griff, als erwartete er noch immer das gewohnte Zischen und Knacken der Türen im Unterreich. Er schüttelte unmerklich den Kopf und stieß die massive hohe Holztür auf. Wärme strömte ihnen entgegen. Die kalte Winterluft und der lange Fußmarsch hatten Jil bis auf die Knochen ausgekühlt.
Ray betrat den Flur, Jil folgte ihm auf dem Fuß. In der gesamten Wohnung brannte Licht. Nola und Cole saßen an dem großen ovalen Tisch im Salon.
Ray nahm Jil die Jacke ab, die sie sich um die Schultern gelegt hatte, und hängte sie an den Garderobenhaken im Flur.
»Ray, da bist du ja wieder«, sagte Cole. »Alles gut verlaufen?«
Ray stieß ein kurzes Knurren aus und betrat den Salon. Jil setzte sich auf einen freien Stuhl neben Nola, die sich voller Hingabe über eine Strickarbeit beugte. Seit sie in London wohnten, hatte sie ihre Leidenschaft für Handarbeiten entdeckt. Jil amüsierte sich darüber, denn sie hatte Nola als eine furchtlose Kämpferin und einen hervorragenden Schützen kennengelernt. Ihr neuer Lebenswandel hatte sie alle verändert. Bis auf Ray, der noch immer mit seinem Schicksal haderte. Vielleicht hatte er sich deshalb einen derart unkonventionellen Job gesucht. Er war und blieb ein Jäger.
Ray ließ sich auf den letzten verbliebenen Stuhl fallen und strich sich das schwarze Haar aus der Stirn. »Auftrag ausgeführt, mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Den Bastard wird niemand finden, außer vielleicht die Fische in der Themse.«
Das Klackern der Stricknadeln setzte für einen Moment aus, als Nola den Blick hob und Ray mit geschürzten Lippen einen skeptischen Blick zuwarf. »Wieso tust du das überhaupt?«, fragte sie. »Du hast das Licht, du könntest uneingeschränkt tagsüber aktiv sein, und trotzdem ziehst du jede Nacht umher und spielst weiterhin den Gerechtigkeitskämpfer. Ich dachte, du hättest davon die Nase voll gehabt.«
Ray lehnte sich im Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du vergisst, dass ich mit einem nicht tageslichttauglichen Gesicht gesegnet bin.« Die Verbitterung in seiner Stimme war kaum zu überhören. »Außerdem trage ich das Licht nicht bei mir und du weißt auch genau, weshalb.«
Nola seufzte.
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