Lichthaus Kaltgestellt
Psychologe die Fallanalyse allein übernahm, hatte man sich in Deutschland für spezialisierte Teams entschieden, die man für effizienter hielt. Andererseits war ein Fallanalytiker vor Ort in Trier von unschätzbarem Wert, da die Wege sich verkürzten und bürokratische Hürden erst gar nicht entstanden. Er würde sich nach diesem Gespräch entscheiden.
Die Sprechstunde war entweder nicht gut besucht oder schon vorbei. Kein Student wartete vor der Bürotür. Lichthaus klopfte an und wartete höflich auf das Herein, bevor er eintrat.
Der Raum war klein, und alle Wände waren mit einfachen Metallregalen zugestellt, die von Büchern, Kopien, Seminararbeiten und sonstigen Unterlagen nur so überquollen. In der Mitte, gleich neben dem Fenster, stand ein Schreibtisch, auf dem ein unglaubliches Chaos herrschte: Stifte, Zeitschriften, Kaffeebecher, einige Bilderrahmen und Brötchenkrümel in unbeschreiblichem Durcheinander. Dahinter von Falkberg, das exakte Gegenteil. Die kurzen, dichten, braunen Haare waren akkurat gescheitelt. Der graue Rollkragenpullover und das wollene Sakko waren makellos, genauso wie die glänzenden Schuhe, die unter dem Tisch hervorlugten. Von Falkberg musterte ihn aufmerksam durch eine große Brille, der man ansah, dass sie einige Dioptrien korrigieren musste. Der Mann wirkte sympathisch, wenngleich augenblicklich befremdet.
»Guten Tag. Für einen Studenten sind Sie etwas zu alt, für das Seniorenstudium aber noch zu frisch«, bemerkte er mit einem leicht ironischen Lächeln und schaute auf die Tatortmappe in Lichthaus’ Hand, sagte aber nichts weiter.
Lichthaus erwiderte den Gruß. »Mein Name ist Johannes Lichthaus, und ich leite die Untersuchungen im Fall des toten Mädchens, das wir im Wald gefunden haben.«
Von Falkberg bot ihm einen Platz an und er setzte sich auf einen Stuhl vor den Schreibtisch.
»Wenn Sie zu mir kommen, scheint etwas mehr dran zu sein als ein einfacher Mord.«
»Das ist bislang nur eine Vermutung«, wich Lichthaus aus.
»Aber doch so konkret, dass Sie hier heraufgekommen sind. Ohne Voranmeldung.« Von Falkberg schien belustigt. »Ich habe in der Zeitung von dem Mädchen gelesen.«
»Nun, wir können nachweisen, dass es sich um einen Serientäter handelt, da er bereits vor mehreren Jahren im Raum Wiesbaden für eine Vergewaltigungsserie verantwortlich war. Was in der Zwischenzeit war, wissen wir nicht. Wir …«
Von Falkberg unterbrach ihn. »Ein Serientäter also. Interessant. Warum sind Sie sich da so sicher?«
»Er hat Sperma hinterlassen, das wir den Altfällen zuordnen konnten.«
»Gut, also erstens, wenn ich eine Analyse mache, dann nur auf Basis der Fakten, unbeeinflusst durch Ihre Mutmaßungen. Die können Sie dann anschließend mit meinen Ergebnissen abgleichen. In der Regel lässt sich so der potenzielle Täterkreis weiter einengen.«
Lichthaus kannte die Methode. Der Analytiker würde die Fakten intensiv studieren und anschließend den Fall von allen Seiten beleuchten. Das mochte simpel klingen, aber Lichthaus wusste, dass es jahrelange Erfahrung und umfangreiches Fachwissen voraussetzte, um die richtigen Schlüsse ziehen zu können.
»Ich suche bei meinen Analysen nach signifikantem Tatverhalten«, fuhr von Falkberg fort. »Aus unserer Sicht muss jede Handlung des Täters, jede Verletzung des Opfers einen nachvollziehbaren Grund haben. Wir können daran zum Beispiel sehen, ob er geplant gehandelt hat oder ob es Anzeichen dafür gibt, dass er das Opfer kannte. Wir hatten einmal einen Mörder, der eine Frau erwürgt und dann mit gefalteten Händen begraben hat. Wir nennen das »undoing«. Er wollte das Ganze ungeschehen machen. Deshalb vermuteten wir, dass der Mann das Opfer vorher schon kannte und dass es sich um eine Affekttat handelte. Schlussendlich konnte ein Kollege der Frau festgenommen werden, der sie bedrängt und, als sie zu schreien anfing, erwürgt hatte. Zentral für mich sind vor allem die Tatort- und Opferspuren, da ich hier dem Täter direkt begegne. Ich will herauslesen, warum er sich so und nicht anders verhalten hat.«
»Wir haben bislang keinen Tatort, sondern nur einen Fundort.«
»Was ist mit den Vergewaltigungen in Wiesbaden?«
»Da schon.«
»Gut. Nennen Sie mir die Einzelheiten, dann sage ich Ihnen, ob eine Fallanalyse Sinn macht.«
Lichthaus trug aus dem Gedächtnis die Fakten vor. Er achtete darauf, Spekulationen herauszuhalten, brauchte aber trotzdem fast zehn Minuten, um alle Einzelheiten zusammenzufassen, und
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