Lichtjäger - Die Wintersonnenwende-Saga
verschütteten Erinnerung tief in seiner Seele.
»Behalte sie gut im Gedächtnis«, sagte Merriman. »Sie werden dir Kraft geben.«
Will nickte, dann erstarrte er. Plötzlich hörte er draußen vor der Halle Lärm, der immer stärker wurde, und mit einer schrecklichen Gewissheit wusste er jetzt, warum er vorhin so unruhig gewesen war. Während die Alte Dame unbewegt in ihrem Sessel sitzen blieb und er und Merriman wieder neben der Feuerstelle standen, füllte sich die weite Halle mit einer Grauen erregenden Mischung von Stöhnen und Murmeln und schrillem Jammern. Es klang wie die Stimmen eingesperrter böser Tiere. Etwas so Widerwärtiges hatte er noch nie gehört.
Das Haar in Wills Nacken sträubte sich, aber dann trat plötzlich Stille ein. Ein Scheit fiel knisternd ins Feuer. Will hörte das Blut in seinen Schläfen pochen. Und in die Stille fiel ein neuer Laut. Er kam von draußen: das herzbrechende, flehende Heulen eines verlassenen Hundes, der in panischer Angst um Hilfe und Freundschaft fleht. Will fühlte, wie sein Herz vor Mitleid schmolz, er wandte sich unwillkürlich dem Laut zu.
»Oh, wo ist es? Das arme Tier — «
Während er auf die nackten Steine der weit entfernten, gegenüberliegenden Wand blickte, sah er, wie sich darin eine Tür abzeichnete. Es war nicht das riesige Flügeltor, durch das er eingetreten war, sondern eine viel kleinere Tür, eine winzige, elende kleine Tür, die ganz und gar nicht hierher passte. Aber er wusste, er konnte sie öffnen, um dem flehenden Tier zu helfen. Das Tier heulte jetzt in noch tieferer Not, noch lauter, flehender; es winselte verzweifelt. Will wandte sich unwillkürlich, um auf die Tür zuzulaufen, aber Merrimans Stimme ließ ihn erstarren. Sie war leise, aber kalt wie Stein im Winter. »Warte. Wenn du die Gestalt des armen traurigen Hundes sähest, würdest du sehr überrascht sein. Und es wäre das Letzte, was du je sehen würdest.«
Ungläubig blieb Will stehen und wartete. Das Winseln erstarb in einem letzten, lang gezogenen Aufheulen. Einen Augenblick lang herrschte Stille. Dann hörte er plötzlich die Stimme seiner Mutter hinter der Tür.
»Will? Wiill-iill --- Will, komm und hilf mir!« Es war unverkennbar ihre Stimme, aber die Erregung in der Stimme klang nicht vertraut: Es lag ein halb unterdrücktes Entsetzen darin, das ihn erschreckte. »Will? Ich brauche dich ... Wo bist du, Will? Oh, bitte, Will, komm und hilf mir — « Dann brach die Stimme mit einem Schluchzen ab.
Will konnte es nicht ertragen. Er beugte sich vor und lief auf die Tür zu. Merrimans Stimme kam wie ein Peitschenhieb. »Bleib stehen!«
»Aber ich muss hin. Hören Sie sie nicht?«, schrie Will wütend. »Sie haben meine Mutter. Ich muss ihr helfen — «
»Öffne die Tür nicht!«
In der tiefen Stimme war Verzweiflung und Will ahnte, dass Merriman letzten Endes nicht die Macht hatte, ihn aufzuhalten.
»Das ist nicht deine Mutter«, sagte die Alte Dame mit klarer Stimme.
»Bitte, Will!«, flehte die Stimme seiner Mutter.
»Ich komme!« Will streckte die Hand nach dem schwarzen Riegel aus, aber in seiner Hast stolperte er und fiel gegen den mannshohen Kerzenständer, sodass sein Arm gegen seinen Körper gepresst wurde. Plötzlich fühlte er einen brennenden Schmerz an seinem Unterarm. Er schrie auf und fiel zu Boden, lag da und starrte die Innenseite seines Handgelenks an, wo das Zeichen des gevierteilten Kreises mit peinigender Glut auf seiner Haut brannte. Wieder einmal hatte das Eisenzeichen an seinem Gürtel ihn mit seiner grausamen Kälte gebissen; diesmal war die Kälte wie Weißglut gewesen, eine wutentbrannte Warnung vor der Gegenwart des Bösen — der Gegenwart, die Will gespürt, aber vergessen hatte.
Merriman und die Alte Dame hatten sich immer noch nicht gerührt. Will raffte sich auf und horchte: Draußen weinte immer noch die Stimme seiner Mutter, dann wurde sie böse, dann drohend, dann besänftigte sie sich wieder, schmeichelte und lockte. Endlich hörte es auf; die Stimme erstarb in einem Schluchzen, das an ihm zerrte, obgleich sein Geist und seine Sinne ihm sagten, dass es nicht wirklich war.
Und mit der Stimme verblasste die Tür, löste sich auf wie Nebel, bis die . graue Wand wieder fest und glatt war wie zuvor. Draußen begann wieder der schreckliche, unmenschliche Chor sein Stöhnen und Heulen.
Jetzt erhob sich die Alte Dame und kam durch die Halle auf Will zu. Ihr langes grünes Gewand raschelte leise bei jedem Schritt. Sie nahm Wills verletzten
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