Lichtjäger - Die Wintersonnenwende-Saga
rufen: »Der Flammenbaum, Will! Schlag mit der Flamme zu! Wie du zum Feuer gesprochen hast, so sprich zu der Flamme und schlag zu!«
In verzweifeltem Gehorsam richtete Will alle seine Gedanken auf den Kreis der hohen Kerzenflammen hinter seinem Rücken. Während er dies tat, spürte er, wie seine beiden Helfer das Gleiche taten, er wusste, dass sie zu dritt mehr erreichen konnten, als er sich je vorgestellt hatte. Er fühlte einen schnellen Druck der Hände, die die seinen hielten, und in Gedanken schlug er mit der Lichtsäule zu, als wäre es eine Riesenpeitsche. Ein blendender Lichtstrahl zuckte über seinen Kopf hinweg, die hohen Flammen fuhren wie ein Blitz nach vorn und dann nach unten und aus der Dunkelheit drang ein ohrenbetäubender Aufschrei. Der Reiter, der schwarze Hengst, sie beide stürzten: davon, nach unten, in einen bodenlosen Schlund.
Er blinzelte mit immer noch geblendeten Augen. Da wurden vor ihm, in der Bresche, die er in die Dunkelheit geschlagen hatte, die beiden großen geschnitzten Torflügel sichtbar, durch die er die Halle betreten hatte.
In der plötzlichen Stille hörte Will seinen eigenen triumphierenden Schrei; er riss sich von den beiden Händen los, die ihn hielten, und wollte auf das Tor zustürzen. Beide, Merriman und die Alte Dame, schrien ihm eine Warnung zu, aber es war zu spät. Will hatte den Kreis gebrochen, er stand allein da.
Kaum war er sich dessen bewusst geworden, als ihm schwindlig wurde, er taumelte, fasste mit beiden Händen seinen Kopf, denn ein seltsames Dröhnen brauste ihm in den Ohren. Er zwang sich vorwärts zu gehen, schlurfte auf das Tor zu, ließ sich dagegenfallen und schlug mit kraftlosen Fäusten gegen das Holz. Das Tor rührte sich nicht.
Das unheimliche Dröhnen in seinem Kopf wurde lauter. Er sah Merriman auf sich zukommen; er ging mit großer Anstrengung, vorgebeugt, als kämpfe er gegen einen Sturm an.
»Du Tor«, keuchte Merriman, »du törichter Junge.« Er stemmte sich gegen das Tor, rüttelte daran, drückte mit aller Kraft, sodass die schlängelnden Adern an seinen Schläfen wie dicke Drähte vorstanden; und während er das tat, hob er den Kopf und schrie einen Befehl, den Will aber nicht verstand. Er fühlte eine Schwäche in seinen Gliedern, die ihn zu Boden ziehen wollte; aber als er eben nachgeben wollte, riss ihn etwas ins helle Bewusstsein zurück, etwas, das er später nie hätte beschreiben können — an das er sich nicht einmal richtig erinnerte. Es war, als ob ein Schmerz nachließe, als ob ein Missklang sich in eine Harmonie auflöste, wie das Erwachen der Lebensgeister, das man plötzlich mitten an einem grauen, trüben Tag spürt; das man sich nicht erklären kann, bis man plötzlich merkt, dass die Sonne zum Vorschein gekommen ist. Die schweigende Musik, die in Wills Seele strömte und seinen Geist in Besitz nahm, kam, das wusste er sofort, von der Alten Dame. Ohne zu sprechen, sprach sie zu ihm. Sie sprach zu ihnen beiden — und auch zur Finsternis. Er blickte sich ganz benommen um; sie kam ihm größer, breiter, sogar aufrechter vor, eine Gestalt in einem größeren Maßstab. Um sie lag ein goldener Schimmer, ein Licht, das nicht von den Kerzen kam.
Will zwinkerte, aber er konnte nicht klar sehen; es war, als sei er von ihr durch einen Schleier getrennt. Er hörte Merrimans tiefe Stimme, sanfter, als er sie je gehört hatte, aber sie klang auch tief erschrocken und unglücklich. »Hehre Frau«, sagte Merriman gequält, »nehmt Euch in Acht, nehmt Euch in Acht.«
Keine Antwort kam, aber Will hatte das Gefühl, gesegnet zu werden. Dann verflog dieses Gefühl und die hohe, leuchtende Gestalt, die Alte Dame und doch nicht sie, bewegte sich langsam durch die Dunkelheit auf das Tor zu und einen Augenblick lang hörte Will wieder die zauberhafte Melodie, die er sich nie ins Gedächtnis zurückrufen konnte, und das Tor öffnete sich langsam. Draußen war es still, ein graues Licht herrschte und die Luft war kalt.
Hinter ihm war der Kreis der Kerzen erloschen, er sah nur Dunkelheit. Es war eine leere, unruhige Finsternis; er wusste, dass die Halle nicht mehr da war. Und plötzlich merkte er, wie die strahlende goldene Gestalt vor ihm auch verblasste, verging wie Rauch, der immer dünner und dünner wird, bis man ihn nicht mehr sehen kann. Für einen Augenblick sah er noch das rosenfarbene Aufblitzen, das von dem großen Ring an der Hand der Dame ausging, dann verglomm auch dies und ihre strahlende Gestalt hatte sich ins Nichts
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