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Lichtjäger - Die Wintersonnenwende-Saga

Lichtjäger - Die Wintersonnenwende-Saga

Titel: Lichtjäger - Die Wintersonnenwende-Saga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Cooper
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und doch vertraut, und Will wurde plötzlich klar, dass er die gleiche Haltung am Abend vorher bei den beiden Hunden auf dem Hof seines Onkels beobachtet hatte, als sie Rhys halfen, die Kühe zum Melken hereinzutreiben. Es war die Haltung der Aufsicht — das wachsame Kauern, aus dem heraus ein Schäferhund springen würde, um die Tiere in eine bestimmte Richtung zu treiben.
    Aber wohin versuchte dieser Hund ihn zu treiben?
    Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Will holte tief Luft, sah den Hund an und begann dann, den Hang direkt hinaufzuklettern. Der Hund blieb stehen und knurrte wieder leise tief in der Kehle; er kauerte mit gekrümmtem Rücken da, als wären seine vier Beine mit dem Boden verwurzelt. Das Fletschen der weißen Zähne sagte sehr deutlich:
Nicht hier entlang.
Aber Will ballte die Fäuste und kletterte weiter. Er wich ein wenig von seiner Richtung ab, sodass er nahe am Hund vorbeikommen würde, ohne ihn zu berühren. Aber dann sprang wider Erwarten der Hund mit einem kurzen Bellen auf ihn zu, duckte sich wieder tief, und Will machte unwillkürlich einen Satz — und verlor das Gleichgewicht. Er fiel seitlich auf den steilen Hang. Verzweifelt streckte er die Arme weit aus, um nicht kopfüber den Hang hinunterzurollen. Er schlitterte und rutschte Hals über Kopf ein paar wilde Meter bergab, voller Entsetzen, das laut wie ein Schrei in seinem Kopf dröhnte, bis sein Fall aufgehalten wurde durch etwas, das heftig an seinem Ärmel riss. Er landete mit einem dumpfen, betäubenden Aufprall an einem Felsen.
    Er öffnete die Augen. Die Linie, wo Berg und Himmel sich trafen, drehte sich vor ihm. Dicht neben ihm stand der Hund, die Zähne in den Ärmel von Wills Jacke geschlagen, und zerrte ihn zurück, ganz warmer Atem und schwarze Nase und weit geöffnete Augen. Und bei dem Anblick der Augen begann die Welt um Will herum sich zu drehen, so schnell, dass er dachte, er falle immer noch. Es dröhnte wieder in seinen Ohren und alles Normale verwandelte sich plötzlich in ein Chaos. Denn die Augen dieses Hundes glichen keinen Augen, die er je zuvor gesehen hatte; wo sie braun hätten sein sollen, waren sie silberweiß: Augen, die die Farbe eines blinden Tieres hatten, im Kopf eines Tieres, das sehen konnte. Und während die silbernen Augen ihn anblickten und der Atem des Hundes ihm heiß über das Gesicht strich, erinnerte Will sich in einem wirbelnden Augenblick an alles, was seine Krankheit ihn hatte vergessen lassen. Er erinnerte sich an die Verse, die ihn führen sollten auf der freudlosen, einsamen Suche, auf die er sich jetzt machen musste; wusste wieder, wer er war und was er war — und erkannte den Plan, der ihn unter der Maske des Zufalls hier nach Wales gebracht hatte.
    Gleichzeitig verließ ihn eine andere Art von Naivität, und er erkannte die ungeheure Gefahr, die wie ein großer Schatten auf der Welt überall in diesem unbekannten Land der grünen Täler und der dunkel verschleierten Gipfel auf ihn lauerte. Er kam sich vor wie der Führer in einer Schlacht, der plötzlich neue Informationen erhalten hat: Plötzlich wird ihm klar, dass genau hinter dem Horizont eine große und schreckliche Armee im Hinterhalt liegt, die sich darauf vorbereitet, sich wie eine gewaltige Welle zu erheben und alle ertrinken zu lassen, die ihr im Weg stehen.
     
    Zitternd vor Erstaunen, streckte Will seinen anderen Arm aus und streichelte die Ohren des Hundes. Der Hund ließ seinen Ärmel los und blickte auf ihn hinunter, die rosa Zunge aus einem rosa umrandeten Maul heraushängen lassend.
    »Guter Hund«, sagte Will. »Guter Hund.« Dann fiel ein dunkler Schatten auf ihn, und er rollte sich auf die andere Seite, um sich aufzusetzen und festzustellen, wer dort seinen Schatten auf ihn warf.
    Eine klare walisische Stimme sagte: »Bist du verletzt?«
    Es war ein Junge. Seine ordentliche Kleidung sah nach Schuluniform aus: graue Hosen, weißes Hemd, rote Socken und Krawatte. Eine Schultasche hing über seiner Schulter und er schien etwa so alt wie Will zu sein. Aber etwas war, wie bei dem Hund, ungewöhnlich an ihm, etwas, das Will den Hals zuschnürte und ihn bewegungslos und erstaunt starren ließ, denn der Junge war ohne jede Farbe, wie eine in der Sommersonne gebleichte Muschel. Sein Haar war weiß, ebenso seine Augenbrauen. Seine Haut war blass. Der Eindruck war so bestürzend, dass Will sich einen verrückten Augenblick lang fragte, ob das Haar absichtlich gebleicht worden war — vorsätzlich, um Erstaunen

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