Lichtjäger - Die Wintersonnenwende-Saga
und Unruhe zu erzeugen. Aber die Idee verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Die Mischung aus Überheblichkeit und Feindseligkeit, die aus dem Gesicht sprach, zeigte deutlich, dass es auf keinen Fall solch ein Junge war.
»Alles in Ordnung.« Will stand auf, schüttelte sich und zupfte sich Farnteilchen aus den Haaren und von der Kleidung.
Er sagte: »Du könntest deinem Hund den Unterschied zwischen Schafen und Menschen beibringen.«
»Oh«, sagte der Junge ohne besonderes Interesse, »er wusste, was er tat. Er hätte dir nichts getan.« Er sagte etwas auf Walisisch zu dem Hund, und der Hund trottete zurück auf den Hügel und ließ sich neben ihm nieder, sie beide beobachtend.
»Also«, fing Will an, und dann hielt er inne. Er hatte dem Jungen ins Gesicht geblickt und dort noch ein Augenpaar entdeckt, das ihn aus dem Gleichgewicht warf. Diesmal war es nicht das Unheimliche, das er bei dem Hund gesehen hatte; er fühlte mit plötzlichem Schock, dass er die Augen schon einmal gesehen hatte. Die Augen des Jungen waren von einer seltsamen, braungoldenen Farbe, wie die Augen einer Katze oder eines Vogels. Von Wimpern umrandet, die so bleich waren, dass sie fast unsichtbar schienen, glitzerten sie auf kalte, unergründliche Weise.
»Der Raben-Junge«,
sagte Will sofort. »Das bist du, so wirst du in dem alten Vers genannt. Ich habe es jetzt alles wieder zusammen, ich kann mich erinnern. Aber Raben sind schwarz. Warum wirst du so genannt?«
»Ich heiße Bran«, sagte der Junge, ohne zu lächeln, und blickte unverwandt auf Will hinunter. »Bran Davies. Ich lebe unten auf dem Hof deines Onkels.«
Für einen Augenblick war Will verblüfft, trotz seines neuen Selbstvertrauens. »Auf dem Hof?«
»Zusammen mit meinem Vater. In einem kleinen Haus. Mein Vater arbeitet für David Evans.« Er blinzelte im Sonnenlicht, zog eine Sonnenbrille aus der Tasche und setzte sie auf; die braungoldenen Augen verschwanden im Schatten. Er sagte, in genau dem gleichen Gesprächston: »Bran ist das walisische Wort für Krähe. Aber in den alten Geschichten haben Leute, die Bran heißen, auch mit dem Raben zu tun. Es gibt hier in den Bergen eine Menge Raben. Du könntest mich also auch ›der Raben-Junge‹ nennen, wenn du willst. Dichterische Freiheit, sozusagen.«
Er ließ die Schultasche von seiner Schulter gleiten und setzte sich neben Will auf einen Felsen, mit dem Tragriemen aus Leder spielend.
Will fragte: »Woher wusstest du, wer ich bin? Dass David Evans mein Onkel ist?«
»Ich könnte ebenso gut fragen, wie du mich erkannt hast«, sagte Bran. »Woher wusstest du es, warum nanntest du mich den Raben-Jungen?«
Er fuhr mit einem Finger müßig über den Lederriemen.
Dann lächelte er plötzlich, ein Lächeln, das sein blasses Gesicht aufleuchten ließ wie ein schnell entzündetes Feuer, und nahm die dunkle Brille wieder ab.
»Ich werde dir beide Fragen beantworten, Will Stanton«, sagte er. »Es ist so, weil du kein normaler Mensch bist, sondern einer der Uralten des Lichts, hierher gebracht, um die schrecklichen Mächte der Finsternis zu besiegen. Du bist der Letzte dieses Kreises, der auf Erden geboren wurde. Und ich habe auf dich gewartet.«
Der Raben-Junge
»Siehst du«, sagte Will, »es ist für mich die erste Suche ohne Hilfe — und die letzte, weil dies jetzt für das Licht die letzte Möglichkeit ist, sich zu verteidigen: bereit zu sein. Es steht uns ein großer Kampf bevor, Bran — nicht jetzt, aber es wird nicht mehr lange dauern. Denn die Finsternis erhebt sich und wird versuchen, die Welt für sich zu erobern, bis ans Ende der Zeit. Wenn das geschieht, müssen wir kämpfen, und wir müssen siegen. Aber wir können nur siegen, wenn wir die richtigen Waffen haben. Das ist es, was wir getan haben und noch immer tun, auf solchen Suchen wie dieser — die Waffen zu sammeln, die vor langer langer Zeit für uns geschmiedet wurden. Sechs große Zeichen des Lichts: ein goldener Gral, eine wundersame Harfe, ein Kristallschwert ... Sie sind jetzt alle gefunden, bis auf die Harfe und das Schwert, und ich weiß nicht, wie das Schwert gefunden werden soll. Aber die Suche nach der Harfe ist meine Aufgabe ...«
Er pflückte einen Zweig Ginster und starrte darauf. »Vor sehr langer Zeit wurden drei Verse geschrieben«, sagte er, »die mir sagen sollen, was ich zu tun habe. Sie sind nirgends mehr aufgezeichnet, obwohl sie das einst waren. Sie existieren nur noch in meinem Kopf. Oder zumindest taten sie das — für immer,
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