Lichtjäger - Die Wintersonnenwende-Saga
mitten auf dem graugrünen Pfad flacher Granitbrocken, der rund um das Kliff führte. Sie lehnte mit dem Rücken gegen den Felsen, die Teleskophülle fest unter den Arm geklemmt. Sonst hatte Simon sie immer mitgeschleppt, und wenn sie daran dachte, was sich darin befand, überkam sie ein quälendes Gefühl der Verantwortung. Langsam ließ sie die dünne Angelschnur von dem sorgfältig aufgewickelten Knäuel abrollen. Das Ziehen daran war ungleichmäßig, so als bewegten sich die Jungen in der Höhle fort, blieben aber alle paar Sekunden stehen. Sie musste aufpassen, damit sie die Schnur nicht zu fest anzog und diese auch nicht schlaff zu Boden fiel.
Es war sehr heiß. Die Sonne stand hoch über dem steilen grauen Kliff und die Hitze brannte ihr auf der Haut. Auch der Fels, an dem sie lehnte, briet in der Sonne, und sie spürte, wie seine Wärme in ihrem Rücken durch die Kleider drang. Hinter ihr rauschte das Wasser leise, wenn es über den Rand der frei liegenden Steine spülte. Kein Laut war hier am einsamen Fuß der Landzunge zu hören, an dieser, ihrer äußersten Spitze, die von allen Seiten von der See umspült war. Ohne die - Schnur in ihrer Hand, die sich langsam abrollte, hätte Jane sich für den einzigen Menschen auf der Welt halten können. Das Land und das
Graue Haus
schienen sehr weit weg.
Ihre Eltern kamen ihr in den Sinn. Ob sie wohl schon von Penzance zurück waren? Und was würden sie denken, wenn sie das Haus völlig leer fanden, ohne das geringste Zeichen, wohin die anderen gegangen waren?
Sie dachte an die drei Gestalten, die sie über Kenmare Head hatten schreiten sehen, angeführt von dem Schrecken erregenden Mr Hastings, so schwarz und langbeinig wie ein Rieseninsekt. Unwillkürlich schaute sie zum Kliff hinauf, aber es war kein Laut zu hören, keine Bewegung zu sehen, da war nur die hohe graue Felswand, die sich wie eine andauernde Drohung über sie neigte, und auf der — sechzig Meter über Jane — der Rand des Vorgebirges wie eine grüne Grasmütze lag. Dann kam ihr Großonkel Merry in den Sinn. Wo war er? Wohin war er diesmal gegangen? Was war, so dicht vor dem Ende ihrer Suche, so wichtig gewesen, dass er weggehen musste? Es kam Jane keinen Augenblick in den Sinn, dass ihm etwas zugestoßen, dass er in die Hände des Feindes geraten sein könnte. Zu deutlich erinnerte sie sich an die unerschütterliche Zuversicht, mit der Großonkel Merry sie auf dem mitternächtlichen Vorgebirge auf seine Arme genommen hatte: »Sie wagen es nicht, dich zu verfolgen, wenn ich da bin ...«
»Wenn du nur jetzt da wärst!«, sagte Jane laut; trotz der Hitze und der Windstille zitterte sie ein wenig. Sie fürchtete sich: Simon und Barney hatten sich in eine Finsternis hineinbegeben, wo wer weiß welche Gefahren auf sie lauern konnten, wo sie sich verirren konnten, wo vielleicht die Decke auf sie niederstürzte ...
Großonkel Merry hätte verhindert, dass so etwas geschah.
Jane blickte auf die Uhr. Es war zwölf Minuten nach fünf und immer noch wickelte sich die Schnur in ihrer Hand unregelmäßig und langsam ab. Sie zog zweimal kräftig an der Leine. Nach einer Pause spürte sie zweimal einen schwachen Ruck. Simon antwortete. Die Schnur war jetzt zu zwei Dritteln abgewickelt, sie wünschte, sie hätte sie während des Abwickelns gemessen. Die Zeit verstrich langsam, aber die Schnur lief unaufhörlich durch ihre Hand, wenn sie sich jetzt auch langsamer in den dunklen Spalt hineinbewegte. Die Sonne brannte ungerührt aus dem leeren blauen Himmel und eine kleine Brise kam auf und hob die Enden von Janes langem losem Haar.
Sie lehnte sich gegen den Felsen und ließ ihre Sinne schweifen, spürte die Sonnenhitze auf der Haut, atmete den Geruch nach nassen Felsen und Tang und horchte auf das sanfte Plätschern der See. Dann wurde ihr in einer Art Halbschlaf, in der nur ihre Finger wach waren, bewusst, dass das Rauschen der Wellen sich veränderte.
Sie sprang auf und drehte sich um. Zu ihrem Entsetzen sah sie, dass die Tangpolster, die dem Wasserrand am nächsten gewesen waren, jetzt schon auf einer Dünung auf und ab schaukelten, die vorher nicht da gewesen war. Wasser spülte dort, wo vorher der Rand des Felsens gewesen war; sie waren, so schien es ihr, schon näher gekommen. Die Flut kehrte zurück.
Jane spürte, wie eine panische Angst in ihr hochstieg. Die letzten Windungen der Schnur lagen locker in ihrer Hand: Die Jungen mussten schrecklich tief in die Höhle eingedrungen sein. Sie wickelte sich
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