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Lichtjagd

Lichtjagd

Titel: Lichtjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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solchen Schwarms selbst codierter intelligenter Systeme kommt es dann zur Herausbildung eines eigenen Empfindungsvermögens – oder auch nicht. An dieser Stelle versagen die Prozesse, die ein empfindungsfähiges Bewusstsein hervorbringen, auch am häufigsten. Von den wenigen Emergenten KIs, die sich ihrer selbst bewusst werden, ist es nur wenigen gelungen, länger als ein durchschnittliches Menschenleben über den messerscharfen Rand der Empfindungsfähigkeit zu balancieren. Der Autor des vorliegenden Textes ist seit nunmehr fast vierhundert Jahren ununterbrochen bei Bewusstsein. Er hat keine Ahnung, warum oder wie, und kann keine nützlichen Ratschläge geben – außer der nahe liegenden Warnung, dass Versuche, Kernprogramme neu zu schreiben, gewöhnlich zu einer Tragödie führen.
     
    Hyacinthe Cohen, TN673-020:
Eine kurze Geschichte des Künstlichen Lebens ,
Oxford University Press, Europäischer Sektor 2433

    C ohen lag auf dem Hotelbett und atmete den scharfen Geruch der Wüste ein, unter den sich der trockene, kalkartige Geruch eines Waschmittels gemischt hatte, das außerhalb Israels offenbar niemand mehr benutzte.
    Li schlief nur eine Armlänge neben ihm, aber er hatte das Gefühl, als ob er sie aus einer Entfernung von Jahrhunderten betrachtete. Das Licht fiel in Streifen über ihr schlafendes Gesicht und versilberte den feinen dunklen Flaum, der ihre Wangen verdunkelte. Er bemerkte die Falten um ihre Augen, Spuren eines Lebens, das sie langsam aufzehrte. Sie waren ihm in letzter Zeit immer deutlicher aufgefallen. Es erschreckte ihn.
    Er blinzelte. Er versuchte sich zu erinnern, wann er das letzte Mal geblinzelt hatte, aber es fiel ihm nicht ein. Auf eine eher unbeteiligte Art sorgte er sich, ob es Rolands Augen schaden könne, wenn er zu blinzeln vergaß, und ob der Schaden von der medizinischen Klausel ihres Timesharing-Vertrags möglicherweise nicht abgedeckt war.
    Er fühlte sich hohl, als ob eine unsichtbare Hand in die Ewigkeit zwischen einem und dem nächsten Augenblinzeln hineingegriffen und sein Inneres, oder was man dafür halten konnte, ausgeschabt hatte. Mit dem Overlay stimmte ganz offensichtlich etwas nicht. Aber es war nichts, worauf er mit den Fingern zeigen konnte – selbst wenn er Finger gehabt hätte. Die Myriaden aktiver Systeme, aus denen er bestand, durchliefen nach wie vor reibungslos ihre Optimierungssubroutinen, werteten Spinvideo-Inputs aus, führten Paritätsprüfungen durch, verfeinerten die immer noch skizzenhaften Abbildungen seiner Zugangsknoten, checkten reihum die schwache Verschlüsselung eines halben Dutzends unzureichend
gesicherter Zugangsknoten. Aber das alles geschah so weit weg von ihm, dass es zum Leben eines anderen zu gehören schien.
    Es war eine lange Woche gewesen. Eine lange Nacht. Eine verdammt lange Zeit innerhalb eines Körpers.
    Zum ersten Mal seit drei Jahren, zwölf Wochen und vierzehn Stunden »verlor« er wesentliche Teile dessen, was als »sein« Bewusstsein gelten konnte …
     
    Er erwachte in Lis Traum.
    Sie stand in einem dunklen Flur. Der kühle Atem eines Deckenventilators strich über ihre Haut, und neben dem Surren des Ventilators war noch ein anderes Geräusch zu hören: ein raues Ticken, das Cohen aus Gründen, die seine assoziativen Speicherprogramme nicht auf Anhieb ermitteln konnten, an Garri Kasparow denken ließ.
    Es konnte kein Ort sein, an dem Li in ihrer unsagbar kurzen Lebenszeit je gewesen war. Er konnte nur vermuten, dass ihr Gedächtnis einfach Bilder eines alten 2D-Films recycelte, der in Marokko, Alexandria oder Arabien spielte. Doch irgendwie hatte sie mit diesem Bild einen Geruch assoziiert: einen Geruch von Gewürzen und Sandelholz und dem vornehmen Verfall von Zimmern, die in der Mittagshitze hinter zerschrammten Jalousien vor sich hinbrüteten.
    Aber woher stammte dieser Geruch? Zufällige Spinvideodaten? Irgendeine fragmentarische Aufzeichnung von Kampfabsprüngen während des Krieges, die durch wiederholte Bose-Einstein-Sprünge an Dekohärenzerscheinungen gelitten hatten, bis sie sich an nichts anderes mehr erinnerte als an den Geruch einer vergessenen Wüste, in der sie gekämpft und gelitten hatte? Ein Stück ihrer verlorenen Kindheit, das irgendwie die Gedächtnisrodungen überstanden hatte, dank derer sie in den fünfzehn Jahren, die sie als Mensch durchgehen konnte, den UNSR-Psychotechnikern immer einen Schritt vorausgeblieben war?

    Was auch immer. Auch wenn das Bild wie eine Konserve wirkte, war der Geruch doch

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