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Lichtjagd

Lichtjagd

Titel: Lichtjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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fielen in Ohnmacht.
    Die größte technische Meisterleistung, die in diese Maschine eingegangen war und sie gleichermaßen zu einem Automaten und einem Werk der Einbildungskraft gemacht hatte, war sein linker Arm. Er war zweifellos die höchstentwickelte Prothese des vormodernen Zeitalters, denn er konnte alle erforderlichen feinmotorischen Bewegungen ausführen, um Schachfiguren über das Brett zu schieben. Oder wie der Flugblattschreiber Carl-Gottlieb Windisch 1773 erklärte: »Die Erfindung eines mechanischen Arms, dessen Bewegungen so natürlich waren, der mit solcher Eleganz zugreifen, anheben und abstellen konnte, auch wenn der Arm von den beiden Händen des Erfinders selbst gesteuert wurde, ist für sich genommen so kompliziert, dass sie vielen Künstlern bleibende Anerkennung sichern würde.«
    Aber abgesehen von dem kunstvollen Arm war Von Kempelens Türke ein reiner Schwindel. Der Trick bestand in der sonderbaren Konstruktion des Tisches (eigentlich mehr ein Schränkchen), der das Schachbrett trug und die Mechanik des Türken enthielt. Vor jeder Schachpartie öffnete Von Kempelen die Vordertüren des Schränkchens und hielt eine Kerze hinter die Konstruktion, um zu beweisen, dass sich im
Innern nichts als Riemen und Zahnräder befanden und kein Platz für einen erwachsenen Mann war.
    Aber tatsächlich war genug Platz. Denn die Maschine mit dem wundersamen Arm war für einen Mann ohne Beine gebaut worden.
    Der erste »Dirigent« des Automatischen Schachspielers war ein ansonsten unbekannter Pole namens Joseph Warowski gewesen. Er hatte beide Beine durch eine Kanonenkugel verloren, die ihn während irgendeines obskuren europäischen Territorialkonflikts getroffen hatte. Er war außerdem, auch wenn beides wahrscheinlich nicht miteinander zusammenhing, einer der besten Schachspieler auf dem Kontinent. Vor jeder Vorführung legte Warowski seine künstlichen Beine ab und setzte sich in ein raffiniert konstruiertes Schubfach innerhalb des Schränkchens. Wenn Von Kempelen die Türen öffnete, rutschte Warowski in eine verborgene Nische des Schränkchens und schob den »Mechanismus« in den Bereich, den das verwirrte Publikum gerade einsehen konnte.
    Nach Warowskis Tod wurde die Sache natürlich etwas komplizierter. Zu diesem Zeitpunkt aber fiel der Schachspieler einem der größten Bauernfänger aller Zeiten in die Hände: einem gewissen Johann Mälzel.
    Und dann wurde es wirklich interessant.
    Mälzel heckte einen Plan aus und schaffte es, eine der langlebigsten Verschwörungen in der Geschichte des Schachspiels mehr oder weniger unter seiner Kontrolle zu halten. Die Hälfte der europäischen Schachmeister (die kleinere Hälfte) konspirierte mit Mälzel, um die Legende vom Türken zu verbreiten. Der Schachspieler schlug Benjamin Franklin, Napoleon und eine Auswahl der bekanntesten Könige, Kaiser und Prominenten Europas.
    Aber die Verschwörung forderte ihren Preis. Denn die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Automat wurde von Unglück, Tod und Wahnsinn heimgesucht. Mehrere »Dirigenten« starben, wurden verrückt oder entwickelten eine katastrophale
Klaustrophobie. Gerüchten zufolge soll die einzige (nie beim Namen genannte) Frau, die den Automaten bediente, unfruchtbar geworden sein, aus Gründen, über die die angesehensten Pariser Ärzte mit leichenfledderndem Eifer spekulierten. Außerdem war Jacques Mouret, der berühmteste Dirigent der Maschine, am Ende vollständig gelähmt, niedergestreckt – wie es die Boulevardblätter jener Zeit ausdrückten – vom Fluch des Türken.
    Mouret war es auch, der das Geheimnis des Automaten in einem aufschlussreichen Zeitungsinterview enthüllte, das er auf dem Sterbebett im Austausch für den flüchtigen Trost einiger Flaschen hochprozentiger Spirituosen gab. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich der Automat, Mälzel und Mälzels Schulden bereits nach Amerika abgesetzt.
    Der Fluch des Türken holte Mälzel schließlich in Kuba ein. Während eines Schaukampfes in Havanna zog er sich Gelbfieber zu. Er starb während der Schiffsreise in seine Heimat Philadelphia, und der Automat wurde bei einer Auktion von einem vielgerühmten Kuriositätenladen ersteigert, der Peales Museum oder, nach anderen Quellen, das Chinesische Museum genannt wurde. Wie immer er auch hieß, der Laden war dem Fluch des Türken nicht gewachsen. Er brannte während des Großen Feuers im Jahre 1878 aus, was zu der weitverbreiteten Annahme führte, »Mälzels toter Schachspieler« (wie er inzwischen genannt

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