Lichtjagd
– was schon ein bisschen schwerer fiel, wenn man einmal einen Tod durch Multiple Sklerose überlebt hatte. Aber Dinge als selbstverständlich hinzunehmen, gehörte wohl zu den Dingen, die dem menschlichen Genpool fest eingeschrieben waren.
Cohen schaute umher und verschaffte sich einen Überblick hinsichtlich seiner Mitreisenden im Realraum. Ein paar
vereinzelte Ring-Touristen und Geschäftsreisende, zu erkennen an den Schädelbuchsen, die auf Wetware und Psychware hindeuteten, die auf der Erde verboten war. Aggressive junge Israelis aus der säkularen Ecke, deren sonnenbraune Haut von Windsurfing-Wochenenden vor den In-Stränden von Tel Aviv zeugten – und deren hautenge Outfits wie Importe aussahen, die nur deshalb durch das Embargo geschlüpft waren, weil die Zollbehörden des Rings zu viel mit echten Gesetzesverstößen zu tun hatten, als dass sie sich Gedanken um die Modeticks junger Leute machen konnten. Ein gebrechlicher alter Aschkenasim, der den Sportteil der Ha’aretz las – Maccabi Tel Aviv schlägt Haopel Jerusalem 77:49. Nun, immerhin hatte sich jemand in der Sportredaktion der Ha’aretz einen Sinn für Humor bewahrt, was man von der Meinungsseite nicht behaupten konnte. Auf der Rückbank, wo die Fahrt immer am holprigsten war, hatte sich eine grossäugige und unnatürlich schweigsame Familie von Chassidim zusammengedrängt. Die übliche, verwirrend große Anzahl von Kappen und Schadors im schmutzigen Grün der Polykonfessionellen. Und natürlich die unglaublich jungen Soldaten der Israelischen Abwehrstreitkräfte, deren zerknitterte Uniformen Cohen an Mütter denken ließ, die sich überall in Israel über die Balkongeländer lehnten und riefen: Du willst doch nicht so auf die Straße gehen?
Das Einzige, was fehlte, waren die Palästinenser. Vor dem Krieg wären sie hier mit den Studentenpässen unterwegs gewesen, die im generationenlangen Frieden der offenen Grenze eine bloße Formalität gewesen waren. Sie hätten mit israelischen Freunden gelacht, hingebungsvoll ihre israelischen Freundinnen geküsst und keinen Gedanken an das Grauen der Ultraorthodoxen verschwendet; an den Hüften verwachsen, so wie ihre beiden Nationen – und zu jung und idealistisch, um zu begreifen, dass der Frieden, den sie als selbstverständlich betrachteten, nur eine Pause zur Identitätsfindung war.
Li wachte auf.
Cohen konnte sie überall um sich spüren, ihre Regungen, ihre Unruhe, die Ereignisse des Tages, die ihr in einer hektischen Aufeinanderfolge unfertiger Träume durch das halbwache Bewusstsein huschten, in nervösen Schnitten, die wie nächtliche Spinvideo-Nachrichten in doppeltem Tempo wirkten. Er versuchte einige dieser Träume am Schwanz zu packen, aber sie ergaben keinen Sinn für ihn. Und sie war sich seiner als eine vage, fremdartige Präsenz in ihrem Kopf bewusst, auch wenn sie noch nicht wach genug war, um den Eindringling zu identifizieren.
»Ausspionieren« nannte sie es. Und es würde sehr teuer werden, wenn sie ihn dabei erwischte. Er löste sich von ihr, löschte die Spuren, die er hinterlassen hatte, und war wie immer ein wenig verletzt, weil sie ihn zu Unehrlichkeiten und Heimlichkeiten zwang, um zu erfahren, was er ihr auf Wunsch gern offenbart hätte.
Sie wand sich, brummte etwas und strich halbherzig eine Locke weg, die ihr in die Stirn gerutscht war. Er streckte vorsichtig eine Hand aus und schob sie zurück.
Li schlug die Augen auf.
Er zog seine Hand weg.
»Du musst dir mal die Haare schneiden lassen«, sagte er.
»Ich weiß.« Sie streckte sich, gähnte, und er spürte einen so schmerzhaften Anflug von Sehnsucht, dass er die Zähne aufeinander biss. »Vor unserer Abreise war alles so durcheinander, dass ich’s vergessen habe. Wie ist deine Verbindung? «
»Gut.«
Das war keine Lüge, sondern beruhte auf gezielten Stichproben der verfügbaren Daten.
Im Moment lief er im Wardrive-Modus – er stahl Stromraumzeit von ungesicherten lokalen Zugangsknoten, statt auf legale Kyoto-Kanäle zuzugreifen. Er und Li hatten sich heftig darüber gestritten. Aber er wollte verhindern, dass der
UN-Sicherheitsrat etwas von seinen Erledigungen auf der Erde mitbekam, die er sich für diese Reise vorgenommen hatte. Es gab nichts, was dem Rat besser in den Kram gepasst hätte, als ihm eine teure Klage wegen Wirtschaftsverbrechen reinzuwürgen, und sei es nur der Öffentlichkeitswirkung wegen. Und – so hatte er Lis Einwänden entgegengehalten – wenn er schon jemandem die Macht geben
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