Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
Seine feuchten, glasigen Lippen. Schon jetzt und nicht erst später am frühen Morgen in Queens denke ich, seine Lippen sind die Grenze, das Äußerste dessen, was ich noch ertragen kann.
Irgendwann legt das Schiff an, nachdem es halb Manhattan und nach vielen Schlenkern und Schleifen die Freiheitsstatue umrundet und dann Ellis Island erreicht hat. Das Schiff macht Umwege, um die Fahrt in die Länge zu ziehen und die Dunkelheit abzuwarten, die der Präsentation der Darsteller die richtige Atmosphäre verschafft. Anfangs, kurz nach dem Ablegen, sieht man sie noch, knapp bekleidet, auf dem Oberdeck herumlaufen und erste kleinere Performances vorführen. Torres wirkt am Ende so, als weide er sich an der Lust, die ihn umgibt, als suhle er sich in ihr, während er seine Bewunderer von ihr erlöst, denen es dann genügt, Bilder von ihm mit nach Hause zu nehmen. Die heilige und unschuldige Einfalt der männlichen Sexualität. So wie Torres sie vorführt, wie er es zulässt, von insgesamt vier Männern berührt und stimuliert zu werden, sowie von zwanzig anderen angeschaut und abgelichtet zu werden, als sei er eine männliche Florence Nightingale, die von den Schlachtfeldern zurückgekehrt ist. Und tatsächlich ist er ein Krankenpfleger, wie ich später erfahre. »Ist die männliche Sexualität nicht im Grunde ganz unkompliziert?«, sagt Mads Christiansen, als wir vom Café Freiheit zurückkommen. A travelling nurse. Ein Pfleger. Ich erfahre es bei der Autogrammstunde. Ich frage mich, warum Mads Christiansen das immer wieder erklärt. Er sagt: »Homosexuell zu sein bedeutet, den Körper ernst zu nehmen.« Wir sitzen zusammen bei uns zu Hause und essen zu Abend. Judith hört ihm gespannt zu, mit ihren vom Wein geröteten Lippen, während er seine Darkroomgeschichten erzählt. »Besonders wenn man versteht, wie leicht der Körper verwundet und zerstört werden kann, neigt man zur Homosexualität«, erklärt er. »Dieses Hochgefühl und wie dann der Moment der Reinigung kommt und das Menschsein wird einfach aus einem ›herauskatapultiert‹.« Wir stoßen auf unsere Freundschaft an. Er liest Lee Edelmann und will mich überreden, mich auch wieder mit theoretischen Texten zu beschäftigen. Judith und ich trinken Sekt, Mads Christiansen Mineralwasser. Er hat als Sanitäter gearbeitet in seinem früheren Leben. Als seien seine sexuellen Vorlieben aus den altruistischen Neigungen in seiner Jugend, als er sich für das Dänische Rote Kreuz engagierte, zwangsläufig hervorgegangen. »Ob wir da mal hingehen sollten? Ob wir so etwas auch mal machen sollten?«, fragt Judith, als Mads Christiansen in unsere Gästewohnung gegangen ist und sich schlafen gelegt hat. »Wohin?«, frage ich. »In so einen Raum, einen Darkroom«, sagt sie und nimmt für einen Moment ihre elektrische Zahnbürste aus dem Mund. Später sitzen alle Darsteller unter Deck, nach einer improvisierten Tombola, bei der Kondome, DVDs und Freikarten für die nächste Dampferfahrt verteilt werden und geben Autogramme. Sie alle, Torres, Sanders und Powers, sitzen mit dicken schwarzen Filzstiften bewaffnet an einem langen Tisch und signieren Fotos, die auf einem anderen Tisch liegen und die man sich einfach so nehmen kann. Mads Christiansen bleibt verschwunden. Als der Entschluss in mir heranreift, die Einladung des Schnauzbärtigen anzunehmen und mit zwei anderen Freunden von Mads Christiansen zu der Party nach Queens zu fahren, ist er schon nicht mehr da. Er ist vielleicht wirklich in Staten Island von Bord gegangen und mit der Fähre zurück nach Manhattan gefahren. Vielleicht muss er sich noch auf seinen Vortrag vorbereiten. Er hat im Gegensatz zu mir seine Sexualität fest im Griff. Er masturbiert täglich, wie er sagt, aus »psychohygienischen« Gründen. Das Schiff legt an. Torres duckt sich, klammert sich an den Filzstift, mit dem er Autogramme gibt. Ich habe das Gefühl, er kann gar nicht schreiben, so komisch und unbeholfen sieht seine Schrift aus. Wie eine auf den Kopf gestellte Ruine, die beiden »r« in seinem Namen wie zwei zu Strichen verkümmerte Säulen eines Tempels. »Warum tust du so etwas?«, könnte ich ihn fragen. »Warum tust du dir so etwas an? Geht da nicht alles in die Brüche? Deine Würde? Deine Seele? Geht das nicht alles den Bach runter?«
Ich stehe an der Reling und schaue auf Manhattan. Die Lichter der Türme im Finanzdistrikt breiten ihren Glanz sanft und gleichmäßig über dem Wasser aus. Ich frage mich, wie viel Geld ich Michael und
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