Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
Central Parks gehe, um in der klimatisierten Luft wieder zu einem klaren Gedanken zu kommen, fange ich eine Liste an, so wie sie es tut, eine Liste der Schauplätze unserer Beziehung. Gegen die tyrannische Chronologie meiner Seele gerichtet, die an sich keine Chronologie kennt, sondern nur pure Gleichzeitigkeit, pures Simultandolmetschertum von Gefühlen und Bildern. Eine einzige Gleichzeitigkeit von Erinnerungen, die nur angedeutete Erinnerungen sind, Erinnerungen wie angetäuschte Bewegungen eines Sportlers, eines Boxers oder Fußballspielers, der im letzten Moment verzögert. In diesem Zusammenhang von einer Chronologie zu sprechen ist natürlich ein Witz. Ich sitze bei Starbucks, kurz nachdem sie mit dem Bus abgefahren ist, versuche die misslungene Verabschiedung zu verdrängen und mache eine Liste. Ich schreibe alles untereinander, einerseits zeitlich und andererseits nach seiner Bedeutung geordnet. Mein Getränk, absurderweise ein heißer Kaffee, dampft neben mir wie eine kleine autarke Fabrik, in der gearbeitet wird, während ich auf mein aufgeschlagenes Notizbuch starre. Leute kommen herein, stellen sich geduldig an, holen sich ihre Ration Klimaanlagenluft ab, kaufen sich große üppige aromatisierte Kaffeegetränke, bei denen die Sahnehäubchen unter einer Plastikglaskuppel verborgen sind. Ich versuche meine Liste zu machen. Im Gegensatz zu Judith hasse ich Listen, und ich verachte Menschen, die sie führen und so etwas nötig haben. Ich schreibe schnell, noch immer schwitzend, den heißen Kaffee neben mir, den Judith niemals auch nur angerührt hätte, da sie den Kaffee von Starbucks nicht leiden kann:
Dupont Circle
Baltimore
Anza-Borrego Desert State Park
Primm
Schlosspark Nymphenburg
Dann komme ich nicht weiter. Es ist überhaupt keine Liste. Es ist eine Aneinanderreihung von Namen, so wie ihre Schuhe im Flur unserer Wohnung in München eine Aneinanderreihung von geträumten Spaziergängen sind. Wie Spaziergänge, die jemand ohne sie gemacht hat und von denen er noch immer nicht wieder zurückgekehrt ist. Sie stehen in aller Gelassenheit und Friedlichkeit nebeneinander. Ich könnte die orangenen Turnschuhe wegwerfen, obwohl ich diese Schuhe, die ich an ihr eigentlich nicht leiden kann, jetzt von allen Schuhen am meisten mag. Die Liste müsste strenggenommen mit Marburg beginnen, wo wir das Fahrrad gekauft haben, oder mit Paris, als wir mit dem Nachtzug angekommen sind und uns der aalglatte, pickelige Autovermieter einen Smart mit offenem Verdeck andrehen will, obwohl wir eigentlich einen doppelt so großen Wagen reserviert haben. Und dann ist Kyra gar nicht da, sondern mit ihrem Liebhaber nach Brüssel gefahren. Sie könnte aber auch mit dem Port Authority Bus Terminal beginnen, wo wir uns zum letzten Mal gesehen haben und wo zum ersten Mal eine Verabschiedung auf groteske Weise schiefgegangen ist. In diesem Moment tue ich noch so, als würde dieser Ort, der doch nur wenige Straßenkreuzungen von mir entfernt liegt, gar nicht existieren. Die Orte, unsere Orte, sind tatsächlich der Schlüssel, die Lösung für das ganze Problem.
Ihr hochgebundenes Haar im Flugzeug von Paris nach
München, drei Reihen vor mir, da wir keine Sitzplätze
nebeneinander gefunden haben.
Ihre Blicke oder dieser eine Blick, den sie mir zuwirft,
kurz nachdem wir gestartet sind, in 576 Meter Höhe.
Ihr glühendes Gesicht in dem Seafood-Restaurant in
Valparego, als wir nach zweistündigem Herumirren endlich
etwas gefunden haben, das meinen Ansprüchen genügt.
Der Eindruck von Glück, als sie endlich bestellen kann.
Wie sie bestellt …
Wie sie mich anlächelt, unsicher in einem Zustand sich
abzeichnender Demütigung, in dem Augenblick, in unserer
Gästewohnung, als ich …
Wie sie den Riemen ihrer Tasche hochzieht in der Lucien-Freud-Ausstellung,
von der ich nicht weiß, wo sie
gewesen ist.
Wie sie den Artikel über Walter Benjamin aus der Zeitung
ausschneidet, an einem Sonntag im Café Ruffini.
Wie sie The Drowned World liest und dabei mit einer
Haarsträhne ihre Oberlippe streichelt.
Wie sie Tiefkühlpizzen in unserem Gefrierfach sortiert.
Wie sie nach einem Telefonat mit ihrer Mutter ins Wohnzimmer
kommt und mich umarmt.
In dem Hotel in Primm im zweiundzwanzigsten Stock.
In dem Hotel in Baltimore im vierzehnten Stock.
Als ich morgens …
Wie sie mich ansieht, auf der nach unten zu unserer Gästewohnung
führenden Treppe mit den kalten Marmorstufen,
als ihre Sandalen von ihren Füßen gerutscht
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