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Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)

Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)

Titel: Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Merkel
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in Zukunft aussehen soll.« Die Ereignisse überlagern sich, wiederholen sich, löschen sich gegenseitig aus. Und warum nicht einfach in drei Wochen nochmal nach Washington fahren? Ich schleppe mich vorwärts. Die Zeit, die ich in meinem ganzen Leben bei unnötigen Verrichtungen und sinnlosen Gedanken vergeudet habe, staut sich jetzt vor mir auf. Ich könnte ein Taxi nehmen. Aber allein, um auf dem Weg zur U-Bahn keine weitere Zeit zu verlieren, sehe ich mich nicht mal nach einem um. Judith hasst es, unter Zeitdruck zu geraten. Wie oft habe ich sie bei den von mir verschuldeten Wettrennen gegen die Zeit hinter mir hergeschleift und ihre Gesundheit aufs Spiel gesetzt. »Ich habe meinen Inhalator vergessen.« Schon nach wenigen Schritten gibt sie auf. Ich kann mich nicht erinnern, sie überhaupt einmal laufen gesehen zu haben. Auch jetzt wäre sie zweifellos längst stehen geblieben und hätte schon allein aus Protest zu atmen aufgehört. Ich laufe weiter, obwohl ich weniger laufe als stolpere. Das Gewicht der Taschen. Die Hitze. Die Formulierung: »Können wir nicht genauso gut zu Fuß gehen.« Judith will lieber Taxi fahren. Als wir im Frühling bei unserem Ausflug nach Baltimore am späten Abend den Bahnhof erreichen und es um die Frage geht, ob wir uns im strömenden Regen zu Fuß auf die Suche nach einem Hotel machen oder ob wir nicht lieber ein Taxi nehmen sollen, sage ich den Satz: »Ich würde lieber zu Fuß gehen.« Wir halten es in Washington nicht aus. Ich fliege zehn Stunden, um mit ihr zusammen zu sein. Und dann fahren wir nach Baltimore. 55 Grad gefühlte Temperatur, zweihundert Meter bis zum in die Tiefe führenden U-Bahn-Schacht. Hundertfünfzig Meter bis zur nächsten Straßenkreuzung. »Ich würde lieber zu Fuß gehen.« In Baltimore, bei strömendem Regen. Wir haben nicht einmal einen Regenschirm. Baltimore. Das könnte das letzte Mal gewesen sein, dass wir miteinander geschlafen haben. In New York haben wir uns noch nicht mal richtig umarmt. »Lass uns lieber zu Fuß gehen.« Ich kann mich nicht mehr erinnern, ich kann mich nicht mehr an die Nacht in Baltimore erinnern. Zwei Monate später. Eine Stunde, die ich verloren habe, weil ich beim Kauf eines Weckers, der nur für die Zeit meines Aufenthalts in New York gedacht war, sparen will. Aber der Wecker bleibt stehen, und zwar ausgerechnet am Tag meines Abflugs. Ich erreiche den U-Bahn-Eingang, die abgetretenen, schmierigen Treppenstufen. Die Hoffnung, hier auf dem Weg in die Unterwelt würde mir so etwas wie kühle Luft entgegenwehen, wird enttäuscht. Tatsächlich ist der U-Bahn-Eingang Grand Street ein einziger schwarzer Schlund. Ich drehe mich um. Ein Taxi fährt über die Kreuzung. Warum konnten wir nicht ein bisschen großzügiger sein, ein bisschen verschwenderischer? »Ich glaube, dass ich lieber laufen will«, sage ich zu ihr am leeren, deprimierenden Bahnhof in Baltimore, in dem sich die ankommenden Reisenden in Sekundenschnelle in alle Himmelsrichtungen zerstreuen. Ich gehe die Treppenstufen nach unten. Eine Stunde im Rückstand, eine Stunde zu spät. Gierig und hemmungslos reißt das große schwarze Tier sein Maul auf. Und ich habe nichts Besseres zu tun, als die Augen zu schließen und mir zu sagen: Du schaffst es schon, du hast es bisher immer geschafft. In deinem ganzen Leben hast du noch keinen Flug verpasst.

    Die Hälfte ihrer Schuhe ist noch immer in München. Sie stehen aufgereiht in einer langen Reihe neben der Eingangstür im Flur an der Wand. Wir reden ständig darüber, ob ich ihr nicht ein paar von ihnen nach Washington schicken soll, und wir vermeiden beide die Frage, was sie mit all den Schuhen dort soll, wenn sie doch wieder zurückkommt. Ich liebe ihre Schuhe. Ich rücke ihre Schuhe nicht heraus. Obwohl mich ihr Anblick stört. »Alles kein Problem«, sagt der freundliche, aber auch etwas phlegmatische MTA-Mitarbeiter. Aber schon im Tunnel, schon hinter der Absperrung, als ich auf dem Bahnsteig stehe, zweifele ich daran. Beruht seine Zuversicht auf einem Missverständnis? Wie kann er behaupten, dass es kein Problem geben wird. Wie kann er sagen: »Keine Sorge. Das schaffen Sie schon.« Was ist in Baltimore passiert? Was ist der Unterschied zu New York? Bei meinem Versuch, die Ereignisse in die richtige Reihenfolge zu bringen, spielt Baltimore eine entscheidende, aber nicht die entscheidende Rolle. Schon am Abend nachdem Judith aus New York abgefahren ist und ich der Hitze wegen in eine Starbucks-Filiale in der Nähe des

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