Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
sind.
Ich unterbreche die Liste. Es ist schon keine Liste mehr. Baltimore. Anza-Borrego Desert State Park. Dupont Circle. Es könnte eine Liste mit drei Orten sein, ich füge noch Palm Springs hinzu, Schlosspark Nymphenburg, Paris, das Glockenbachviertel. Es kann gar keine Chronologie geben. Alle Formen der Erinnerung schließen die zeitliche Dimension mit ein und verunmöglichen jeden Versuch, irgendeine Orientierung zu finden, irgendeine Ordnung herzustellen. Die Möglichkeit, eine Erinnerung wieder zu verlieren, scheint am Anfang noch undenkbar. Am Anfang ist es immer nur die Sehnsucht, die alles bestimmt. Wir trennen uns, verabschieden uns, und schon werden wir von dieser großen Sehnsucht erfasst, die alles überlagert. Und dann schlägt die Sehnsucht irgendwann um und verausgabt sich in der maßlosen und unmenschlichen Geschwindigkeit des Vergessens.
Die Marmorstufen, die zu der Glastür führen, hinter der
sich unsere Gästewohnung befindet …
Baltimore, nachts im Hotel, als würden uns tausend
Fernsehkameras beäugen.
Der Anza-Borrego Desert State Park, nachts im Auto.
Wie wir uns Geständnisse machen, mitten in der Wüste.
Auf der Rückbank im Taxi, als wir auf dem Weg zum
Flughafen sind, kurz bevor sie das Vampirgebiss hervorholt.
Es schleichen sich Ungenauigkeiten ein. Ich schlage die Seite im Notizbuch um, während der Kaffee allmählich zu dampfen aufhört, ich mich aber noch immer außerstande sehe, ihn zu trinken. Schließlich, und es ist schon der dritte oder vierte Versuch, besteht meine Liste nur noch aus Baltimore-Erinnerungen.
House of Pancake.
Das Fischrestaurant am Abend.
Der betrügerische Hotelchauffeur.
Der ekelerregende Schleim auf meinem Teller, der Meeresfrüchte-Salat
heißt.
Das Edgar-Allan-Poe-Haus.
Das Motorschiff im Hafen, das den Müll aufsammelt.
Ich breche die Liste ab und schlage das Notizbuch wieder zu. Ich überlege, ob ich aufbrechen soll, fürchte aber dann, dass ich der Hitze noch nicht gewachsen bin. Ich blättere in The Drowned World , dem Roman, den ich mir eigens noch einmal gekauft habe, um ihn vor der Ankunft von Judith zu lesen, damit wir darüber reden können. Nicht unweit der Starbucks-Filiale, im Central Park, habe ich noch gedacht, ich hätte diese Verabschiedung nicht zulassen sollen. Plötzlich stehe ich auf und verlasse die Starbucks-Filiale. Plötzlich erhebe ich mich. Genauso wie ich mich plötzlich, als ich noch auf dem Weg zur U-Bahn bin, nach dem über die Straßenkreuzung Grand Street/Bowery Street fahrenden Taxi umdrehe und überlege, ob ich nicht doch mit dem Taxi zum Flughafen fahren soll, weil ich so sehr unter Zeitdruck stehe und das Risiko, den Flug zu verpassen, sehr hoch ist. Aber dann gehe ich doch weiter. Ich kann die Wohnung nicht in dem Gefühl verlassen, die Reise nach New York sei gescheitert. Ich stehe auf dem Bahnsteig und warte, während ich überlege, ob ich nicht umkehren soll. »Kein Problem«, sagt der MTA-Mitarbeiter. Im Central Park gerate ich so sehr ins Schwitzen, dass ich es nicht mehr aushalte. Graugrüne, fleckige Bäume, klebrige Blätter, auf denen eine weißlich schimmernde Spur von Ausdünstung zurückgeblieben ist. Hechelnde, sich im lauen Wind vorbeugende Sträucher. Die Parkbank eine Ruine, die von Ruhesehnsüchtigen zurückgelassen worden ist und langsam verfällt. Ein Gefühl übermannt mich, für das eigentlich Judith die Expertin ist, die eine Schwäche für postapokalyptische Gefühle hat. Ich hätte The Drowned World weiterlesen sollen. Vielleicht hätte sie meine Meinung zu dem Buch interessiert. In diesem Roman versinken die Hochhäuser New Yorks in den über die Ufer tretenden Meeren, und nur noch in den obersten Stockwerken halten sich die wenigen Überlebenden über Wasser. Somnambule, genialische Wissenschaftler, deren Einsamkeit lüstern und verwegen ist. Ich muss aus dem Central Park flüchten. Das postapokalyptische Gefühl von Judith. Ich habe mir noch keine Gedanken darüber gemacht, warum sie eine Neigung dazu hat. Hat sie nicht in Wirklichkeit ein durch und durch sonniges Gemüt? Als wir in Baltimore im strömenden Regen am Bahnhof sitzen und darüber diskutieren, ob wir ein Taxi nehmen oder zu Fuß gehen sollen, gerate ich auf einmal in einen Zustand, den ich jetzt, im Nachhinein, während ich auf die Ankunft des L-Train warte, nur noch als Erstarrung bezeichnen kann. Ich muss mich auf eine der Holzbänke setzen. Judith hat immerhin noch die Kraft, bei den Hotels anzurufen, um nach
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