Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
günstigen Übernachtungsangeboten zu fragen, während wir unabhängig davon noch immer darüber diskutieren, ob wir nicht lieber doch zu Fuß gehen sollen. Oder, wie Judith sagt, ob wir nicht einfach irgendwas machen sollen. Sie meint: Ob wir nicht einfach endlich damit anfangen sollen, unser Wochenende in Baltimore zu genießen, statt im strömenden Regen am Bahnhof herumzusitzen. Ich springe auf, in der Starbucks-Filiale zwischen Port Authority Bus Terminal und Central Park, zwischen gescheitertem Verabschiedungsversuch und Hitzekollaps. Die Ankunft des L-Train verzögert sich. Fünf Minuten Verspätung. »Kein Problem. Sie schaffen das.« Auf einmal schäme ich mich, dass ich so schwitze, und ich denke, ich muss mich dagegen zur Wehr setzen. Spielt es denn überhaupt eine Rolle, was in Baltimore passiert ist? Spielt es eine Rolle, ob wir miteinander geschlafen haben? Ich sitze auf einer Holzbank in der Bahnhofshalle und klammere mich an der Plastiktüte fest, in der wir unseren Müll sammeln. Judith telefoniert. Ich höre, wie sie die Münzen in das Telefon wirft, wie sie mit ihrer freundlichen Telefonistinnenstimme bei den Hotels anruft. Warum, um Gottes willen, sind wir nicht einfach losgelaufen, warum nicht einfach gefahren, im Taxi, warum habe ich nicht einfach zwanzig Dollar aus dem Fenster geworfen, warum nicht einfach hundertzwanzig Dollar aus den geöffneten Fenstern des Taxis hinausgeworfen, in dem wir nicht zu dem Hotel, für das wir uns schließlich entschieden haben, gefahren sind? Ich klammere mich an diesen Moment fest, die Telefonate mit den Hotels, die Unentschlossenheit angesichts des Regens. Judith sagt nichts. »Sollen wir nicht lieber zu Fuß gehen?«
2
Die U-Bahn fährt ein. Ich muss mich entscheiden. Soll ich einsteigen? Oder soll ich doch mit dem Taxi fahren? »Ich verstehe, dass Sie mir das erzählen wollen«, sage ich zu Lambert. »Aber wir haben jetzt nur noch fünf Minuten, und ich denke, es ist das Beste, wir verschieben es und sprechen das nächste Mal darüber.« »Das nächste Mal?«, wiederholt Lambert. Ich halte die Luft an, schaue zu, wie der Zug einfährt und langsam zum Stehen kommt. »Wieso können wir die Stunde nicht überziehen, wieso können wir nicht länger machen?«, fragt Lambert. Ich würde gerne wissen, welche Ursachen der Karriereknick seines Vaters hat, halte mich aber mit Fragen zurück. Lambert mokiert sich darüber, wie sein Vater sich bei öffentlichen Auftritten verhält und wie ungepflegt er immer aussieht. Dann wieder beklagt er, dass er in seinem ganzen Leben noch kein einziges persönliches Gespräch mit ihm geführt hat und dass sein Vater ihn immer im Unklaren darüber lässt, was er denkt und was er empfindet. »Aber ich kann Ihnen sagen, woran er gescheitert ist«, sagt Lambert. Ich lasse ihn nicht zu Wort kommen. Ich erkläre ihm, dass wir das nächste Mal darüber reden. Ich versuche es langsam angehen zu lassen. Ich sage mir: »Du schaffst das schon mit dem Flug.« Und ich frage mich: »Was ist eigentlich in Baltimore genau passiert?« Morgens um halb sieben, als ich mich zögernd und dann immer entschlossener vom Hotel entferne, das wir spät in der Nacht nach einem langen Fußmarsch doch noch gefunden haben. Ich verlasse das Hotel, so wie ich damals heimlich unser Schlafzimmer verlasse, um im Englischen Garten nach dem verlorenen Turnschuh zu suchen. Morgens um halb sieben. Ich hinterlasse noch nicht einmal eine Nachricht. Vielleicht denke ich, dass ich in ein paar Minuten wieder zurück bin. »Ach egal«, sagt sie, als wir einen der orangenen Turnschuhe bei unserem nächtlichen Spaziergang verlieren. Es macht ihr nichts aus, wenn sie etwas verliert. Gegenstände bedeuten ihr nichts, obwohl sie ständig irgendetwas kaufen möchte und nach irgendetwas Sehnsucht hat. Es ist ein No-Name-Turnschuh, ein im Grunde hässlicher Schuh, den sie bei einer ihrer Shopping-Touren erstanden und in den sie sich vielleicht gerade deswegen verliebt hat, weil er so billig und schäbig ist. Manchmal denke ich, hoffentlich gehen sie bald kaputt, hoffentlich ist es mit den orangenen Turnschuhen bald vorbei, und dann schleiche ich mich morgens aus dem Haus, um im menschenleeren Englischen Garten nach ihm zu suchen. Verlasse ich deswegen auch unser Hotel in Baltimore? Um ihr eine Freude zu machen? Wir laufen nachts barfuß durch den Englischen Garten. »Fühlst du, wie weich das Gras ist?«, fragt Judith. Wir bekommen einen Lachanfall, als wir merken, dass wir ihn
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