Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
verloren haben. Die Schuhe sind eigentlich auf dem Gepäckträger des Marburg-Fahrrads verstaut, aber einer der orangenen Turnschuhe fällt herunter. »Das ist ein schlechtes Omen«, sagt Judith. »Jetzt ist das Paar nicht mehr vollständig.« Der Verlust eines Gegenstandes löst in ihr nichts aus, während es für mich eine existenzielle Bedrohung darstellt. Schon allein der Gedanke, sie könnte etwas verlieren, macht mich nervös. Und sie verliert oft etwas, sie hätte auch das grüne Schmuckkreuz verloren, genauso wie sie den Zehenring verloren hat, den wir bei unserer Reise in der Wüste gekauft haben. Wir entdecken ihn in einem heruntergekommenen Andenkenladen in der Nähe von San Diego. Es ist ein Ring mit einem aufgeklebten Plastikdiamanten für sieben Dollar fünfzig, und wir kaufen ihn eigentlich nur, weil das andere Paar, das in seinem weißen Ford Voyager die ganze Zeit hinter uns herfährt, plötzlich anhält und auch aussteigt. Sie lässt ihn einfach auf dem Badewannenrand in einem Hotelzimmer in Primm liegen. »Das ist nicht so schlimm«, sagt sie, als sie bemerkt, dass der orangene Turnschuh weg ist. »Das ist nicht so schlimm?«, wiederhole ich. Ich will das Fahrrad für sie schieben, damit sie suchen kann, aber sie klammert sich an den Lenker fest. »Dann musst du Paartherapie mit ihm machen.« »Mit ihm?« »Mit dem Schuh.« »Aber es ist nur einer.« »Ja, deswegen musst du ihm helfen.« Es ist in der Nacht, in der Kyra ihre Abschiedsparty feiert. Judith hat die Idee, durch den Park zu laufen, weil sie glaubt, ich hätte zu viel getrunken, um mit dem Auto zu fahren. Aber in Wirklichkeit habe ich natürlich nichts getrunken. »Ich soll dem Schuh helfen?«, frage ich. »Du darfst nicht Schuh zu ihm sagen, es ist ein Turnschuh. Hilf ihm.« Sie stützt sich auf dem Lenker ab, sie hat zu viel getrunken, sie kann kaum noch weitergehen. »Aber wir müssen erst den anderen finden«, sage ich, und wir laufen wieder zurück, aber sie hat schon nach ein paar Metern keine Lust mehr. »Versprichst du, dass du Paartherapie mit ihnen machst, wenn du ihn gefunden hast?«, sagt sie noch, aber wir finden ihn nicht. Am nächsten Tag bin ich kurz nach Sonnenaufgang im Englischen Garten, um nach ihm zu suchen. Ich verlasse das Haus, so wie ich das Hotel verlasse, heimlich, ohne dass ich ihr etwas davon sage. Ich suche über eine Stunde und werde immer nervöser, als die ersten Jogger aus den schattigen Waldstücken herauspreschen und anfangen, ihre Runden zu drehen. Als ich später nach Hause zurückkehre und sie noch immer schläft, gehe ich ins Badezimmer, reinige den Schuh und stelle ihn dann neben sie aufs Kopfkissen. In Baltimore lasse ich sie drei Stunden allein. Ich bringe ihr nichts mit. Nicht einmal ein billiges Schmuckkreuz. Ich habe das Gefühl, dass wir unbesiegbar sind, als ich durch den Englischen Garten laufe. Uns kann nicht das Geringste passieren, denke ich, während ich angestrengt auf den Boden starre, und dann sage ich mir: »Dieser verfluchte Schuh, hoffentlich finde ich ihn.«
Ich steige ein. Ich schaffe es, oder ich schaffe es nicht. Ich ziehe das Gepäck hinter mir her und suche mir einen Platz in der Nähe einer Tür. Es sind neun Stationen, die ich mit dem L-Train fahre, neun Stationen bis ich umsteigen muss. Diese Ausweglosigkeit hat mit einem Mal etwas Beruhigendes. Als ich durch die leeren Straßen von Baltimore laufe, denke ich nicht an Judith. Ich bin froh, dass ich aus dem Hotelzimmer raus bin. Selbst die noch geöffneten Nachtclubs und Bars haben etwas Ernstes und Tiefgründiges. Als wäre dort nachts besonders hart und intensiv gearbeitet worden. Die quadratische Anordnung der Häuserblöcke und das Gitternetz der rechtwinklig angelegten Straßen, die Gleichförmigkeit ihrer Kreuzungen wiegen mich in Sicherheit und betäuben mich. Ich entferne mich mit dem Gefühl, dass ich jederzeit in unser Hotel zurückkehren kann. Judith schläft, sie hat sich in ihrem Jogginganzug unter der Bettdecke verschanzt. Sie schläft, raune ich mir zu. Kein Problem. Du brauchst dich nicht um sie zu kümmern, brauchst dir keine Gedanken um sie zu machen. In einer plötzlichen Vision sehe ich mich in dem morgendlichen Halbdunkel des Zimmers einer Gestalt gegenüber. Ein ungebetener Besucher, der vor mein Bett tritt. Es ist weniger eine Gestalt als ein Gebilde. Eine halb röhrenförmige halb abstrakte Struktur, die sich vergrößert, wenn man mit ihr in Kontakt zu treten versucht. Dann aber wird sie
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