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Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)

Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)

Titel: Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Merkel
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ungreifbar und verliert alle Dimensionen. Eine solche Gestalt, ein solches Gebilde einen »Besucher« zu nennen, ist natürlich nur ein ironischer Bewältigungsversuch, so wie ich einmal einer Klientin geraten habe, ihren Ängsten Namen zu geben, um sie einerseits zu identifizieren, aber andererseits auf spielerische Weise mit ihnen umzugehen und sozusagen mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Ein schmaler Streifen Licht wird zwischen den Vorhängen sichtbar, fließt langsam über den Teppich ins Zimmer. Das Fenster bildet eine breite großzügige gläserne Front, die an der stählernen Gebäudekante scharf nach links abbiegt und parallel zu der Bettseite, auf der Judith schläft, weiterverläuft. Der Besucher bleibt anonym, er nimmt keine menschlichen Züge an. Aber es ist eine andere Angst als meine Angst, den Flug zu verpassen. Oder meine Angst auf dem Dupont Circle, als ich in der Mittagspause eine Stunde lang auf Judith warte. Es ist eine haltlose und konfuse Angst. Eine Angst, gegen die ich nichts ausrichten kann. Als ich mich entscheide, aufzustehen und spazieren zu gehen, denke ich noch, dass ich sie einfach vertreiben kann. Ich stehe auf und verlasse das Hotel. Ich ahne schon, dass ich nicht so schnell zurück sein und dass ich mich an diesen Spaziergang noch lange erinnern werde. Der Dampf, der aus dem Gulli steigt, das katzenhafte Herumschleichen eines Polizeifahrzeuges in einer Seitenstraße, in die ich hineingehe, weil sie mir auf interessante Weise verkommen erscheint. Die Blicke von Obdachlosen, die durch mich hindurchschauen, die Visitenkarten der Prostituierten, die zwischen den Glassplittern auf dem Boden vor einer kaputten Telefonzelle liegen. Am Abend zuvor sitze ich mit Judith, nachdem wir das Fischrestaurant verlassen haben, in einer Bar in Little Italy, und ich versuche, wie ich es mir schon auf dem Flug nach Washington vorgenommen habe, ihr zu erklären, wie sehr ich sie liebe. Und dass sie ihr Praktikum auf der Stelle abbrechen und zurück nach München kommen soll. Im Fischrestaurant fällt der Strom aus, für wenige Sekunden, dann schaltet sich der Notstromgenerator ein. »Ich würde jedenfalls nicht so einfach ins Ausland gehen, nur weil ich mit meinem Leben nicht zufrieden bin«, sage ich in Gedanken zu ihr. Oder, wenn man es anders ausdrücken würde: Ich halte es ohne dich nicht aus. Ein Satz, für den ich aber noch einen Ort suche und schließlich denke, ich müsste ihn außerhalb der Stadt finden. Der Hafen ist eine Enttäuschung. Es gibt keine richtige Promenade, jedenfalls finde ich sie nicht und laufe die ganze Zeit auf der falschen Seite, an langen hölzernen Piers und Aufbauten vorbei, in denen Restaurants und Bars untergebracht sind, die aber jetzt alle leer stehen. Der eigentlich interessante Teil des Hafens ist auf der gegenüberliegenden Seite. »Ich halte es ohne dich nicht aus.« Es ist kein Satz, den man einfach so sagt. Es ist ein Satz, auf den man hinarbeitet, auf den alles zuführt. Ich sage ihn nicht. Ich bringe ihn nicht über die Lippen . Auch nicht in Little Italy, in der Bar, in der wir später einen Drink nehmen. Die Bar gehört einer ehemaligen Opernsängerin, und der schwere, glitzernde Halsschmuck auf ihrer höckerartigen Brust erweckt den Eindruck, als sei er aus ihren Knochen herausgeschnittenes Licht. Sie arbeitet nur zum Spaß. Dafür hat sie sich die Bar auch gekauft. Es scheint ganz einfach zu sein. Ich sage es ihr. Ich warte den richtigen Moment ab, finde den richtigen Ort. Tatsächlich hat sich unsere Stimmung aufgehellt durch den skurrilen Stromausfall im Fischrestaurant, der nur das oberste Stockwerk des Restaurants betrifft, während der untere hell erleuchtet bleibt. Ein umgeknickter Strommast in der Nachbarschaft. Bei unserem Spaziergang vom Restaurant in das in der Nähe gelegene Little Italy kommt Judith wieder zu Kräften. Ich habe alles versucht, um den Abend zu verderben. Das endlose Telefonieren am Bahnhof, meine Forderung, zu Fuß zu gehen, die quälend lange Debatte darüber, ob das Hotel, in dem wir übernachten, nicht zu unpersönlich ist. Ob wir nicht etwas Schöneres finden können. »Ich halte es ohne dich nicht aus.« Ich hätte den Satz rückwärts aufsagen und mit seinem Ende, mit seiner Pointe beginnen können. Ich warte zu lange. An einem kleinen Hafenbecken, das ich schließlich nach endlosem Herumirren erreiche, bleibe ich eine Weile stehen. Ein Motorboot tuckert durch das Wasser und sammelt den Müll auf. Hunderte von

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