Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
alles morgens an, als ich ins Taxi steige. Als ich nicht zum Bahnhof fahre. Als ich das Hotel in Baltimore verlasse. Als ich spazieren gehe. Es fängt immer morgens an. Warum verlasse ich in München morgens unsere Wohnung? Ich fahre zu einem Café in die Lindwurmstraße oder zu einem Café am Sendlinger Tor. Die wenigen Minuten, die mir bleiben, die losen Enden meiner verschiedenen Lebensbereiche, die grünstichige Leere meiner Praxis und die aufwallenden Gebirge, die ungestüm aufgeworfenen Laken unseres Schlafes zu verbinden. Manchmal bestelle ich mir einen zweiten Kaffee, oder ich sitze da und fühle mich außerstande, das Café wieder zu verlassen. Judith ist zu Hause. Sie studiert ihre aus dem Internet ausgedruckten Texte über das Nomadentum. Arid Climate, Adaptation and Cultural Innovation in Africa . Sie korrigiert Fußnoten in ihrem Darfur-Aufsatz. Es kommt mir vor, als läge sie auf dem Boden neben dem Bett, als hätte ich sie aus dem Bett gestoßen. Wie immer geht es darum, dass ich die Praxis aufgebe, und zwar nicht in einem, wie es professionell sinnvoll wäre, systematischen »Ausschleichungsprozess« über mehrere Jahre, in denen ich keine neuen Klienten mehr annehme, die alten aber noch zu Ende therapiere und die Praxis dann verkaufe, sondern von heute auf morgen oder, wie ich zu sagen pflege, »übers Wochenende«. Ich gebe alles auf, ich schmeiße alles hin. Judith liegt auf dem Fußboden. Ich sitze im Café. Ich möchte zu ihr zurückkehren und möchte mich bei ihr entschuldigen, weil vielleicht der Eindruck entstanden ist, ich würde sie nicht genug lieben. »Aber das stimmt nicht«, würde ich sagen, als gäbe es einen Dritten, der ihr das, während sie schläft, ins Ohr geflüstert hat. »Es ist nicht wahr.« In Baltimore, im Gitternetz der rechtwinkeligen Straßen, die mein Leben in Entscheidungsanordnungen unterteilen. Wieder runter zum Hafen? Oder hoch zum Hotel in den vierzehnten Stock zu meiner schlafenden Freundin? Ich würde die Klienten aus meiner Praxis vertreiben, sie einzeln hinauskatapultieren. Ich würde Lambert hinauswerfen, und das wäre noch das Beste für ihn. Ich würde ihn anrufen und ihm mitteilen, dass ich nichts mehr für ihn tun kann und dass die Therapie zu Ende ist. Die Sonne kommt heraus, ich stehe auf einer Straßenkreuzung, gar nicht so weit entfernt vom Hotel. Noch immer habe ich kein Café gefunden, in dem ich mit Judith frühstücken könnte. Schon auf der Zugfahrt nach Baltimore hat sie mir zu verstehen gegeben, dass sie über die Pläne zur Auflösung meiner Praxis nichts mehr hören will. Will ich sie jetzt dafür bestrafen? Ich stehe auf der Kreuzung, eine schon geöffnete Dunkin’-Donuts-Filiale zu meiner Linken und ein Bürogebäude zu meiner Rechten. Das Hotel ragt vor mir auf. Ich weiß von seiner Anwesenheit, seinem kostbar gehüteten Schatz. Aber ich kehre nicht zu ihm zurück.
»Und was soll ich jetzt tun?«, fragt Lambert. »Soll ich jetzt zwei Wochen abwarten und nichts tun?« Es ist eine ungünstige Tageszeit. Ich lege meine Stunden lieber in den Nachmittag oder in den Abend. Nur in Ausnahmefällen mache ich einen Termin am frühen Morgen. »Da können wir jetzt auch nichts mehr machen«, sage ich zu ihm. »Es hat keinen Sinn, wenn wir jetzt noch mit einem neuen Thema anfangen.« Kurz vor meiner Abfahrt, in der letzten Stunde fängt er damit an. Er erzählt mir von seinem Vater, dessen beruflichen Niedergang er mir immer wieder als Erklärungsmodell anbietet. Der eigentliche Grund für seine Stimmungsschwankungen, seine Insuffizienzgefühle, seine, wie er selbst sagt, »suizidalen Träume«. Und er will mir erzählen, was wirklich mit seinem Vater passiert ist. Ein Geheimnis, das eigentlich niemand erfahren darf. Ausgerechnet in der letzten Stunde, bevor ich nach New York fliege, behauptet er auf einmal, alles, was er mir bisher erzählt habe, sei falsch und würde nicht stimmen, es sei reine Erfindung und sei im Grunde der Versuch, seinen Vater, der als Berufspolitiker bis vor kurzem im Rampenlicht der Öffentlichkeit gestanden hat, vor mir zu schützen und ihn, wie er sagt, »in Sicherheit« zu bringen. Damit wäre es aber jetzt vorbei. Und von jetzt an würde er die Wahrheit sagen. Noch jetzt ärgere ich mich darüber, dass ich mit so einem schwierigen Klienten am frühen Morgen einen Termin mache. Ich bin nicht überrascht, dass die Geschichten, die er mir von seinem Vater erzählt, nicht stimmen oder zumindest nicht vollständig sind. »Wir
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