Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
können gerne über Ihren Vater sprechen«, sage ich, schon im Stehen, um ihm ein klares Zeichen zu geben. »Aber heute wird es nicht mehr gehen.« Ich schaue nach draußen auf den kleinen Innenhof. In den Räumen des medizinischen Fachbuchverlags geht das Licht an. Die Glastür zu der Metalltreppe, die zum Innenhof führt, steht offen. Manchmal sitzt dort auf dem obersten Treppenabsatz jemand und raucht oder schnappt ein bisschen frische Luft. Als hätten sich alle stillschweigend darauf geeinigt, wird der Innenhof aber so gut wie von niemandem betreten. Es gibt keine Pflanzen dort, keine Bäume, nichts, außer einem alten Klappstuhl, der direkt neben der Treppe steht. Ich suche nach einer Lösung, einem versöhnlichen Ausklang der Stunde, etwas, das ich Lambert mit auf den Weg geben kann. Die Bäume im Innenhof der Nationalbibliothek von Paris sind mit Stahlseilen am Boden festgemacht, und man kann um den Garten herumlaufen, aber betreten kann man ihn auch nicht. »Ja und?«, fragt Lambert, der immer noch auf seinem Stuhl sitzt und darauf wartet, wie ich auf seine Provokation reagiere. »Was passiert jetzt? Wollen Sie mich nicht rausschmeißen?« Er sagt, er würde nicht eher die Praxis verlassen, als bis ich ihn angehört habe. Ich bin in Gedanken in Paris. Die Bäume, die die Lesesäle leicht überragen, die sich schwankend bewegen, wenn man ihnen lange genug zuschaut und es ein windiger Tag ist. Ich schaue auf den Klappstuhl. Die Mitarbeiterin des medizinischen Fachbuchverlags hat ihn damals dort unten vergessen, und von den Verlagsräumen aus kann man ihn nicht sehen. Ein paar Mal habe ich schon daran gedacht, ob ich nicht jemand darauf aufmerksam machen soll, aber dann ist mir der Stuhl zu einem lieben Gegenstand geworden, den ich nicht missen möchte. Die Lackschicht auf der Sitzfläche des Klappstuhls ist schon abgeblättert, und die dünne blonde Frau mit den knochigen Beinen, die sich dort in den Schatten gesetzt hat, um zu lesen, sehe ich in meiner Erinnerung immer noch, wie sie das Buch sich ganz nah vors Gesicht hält. Sie hat den Klappstuhl einfach mit nach draußen genommen. Und jetzt, ein Jahr später, steht er immer noch da. Noch in New York, als ich morgens von der Party in Queens nach Hause zurückkehre und auf dem Bett sitzend meinen Computer anschalte, um kurze Zeit später Anne kennenzulernen, kommt mir alles wieder hoch, was Lambert zu mir gesagt hat, alles, was er mir in diesem wahnsinnigen Monolog entgegenschleudert. Nach der Dampferfahrt bin ich so erschöpft, dass ich den Schnauzbärtigen, der in Queens der Gastgeber ist, frage, ob ich mich nicht irgendwo hinlegen kann. Das garagenartige Schlafzimmer liegt in einem cremefarbenen, bleichen Schatten, als ich mitten in der Nacht wieder aufwache. »Wir haben jetzt noch fünf Minuten«, sage ich zu Lambert, während ich meinen Blick langsam von dem im Innenhof stehenden Klappstuhl die Metalltreppe hoch bis zu Glastür des medizinischen Fachbuchverlags wandern lasse. Die Tür ist geschlossen. »Vielleicht machen wir hier einfach einen Punkt.« Und dann bricht es auf einmal aus ihm heraus. Als würde nicht er sprechen, sondern irgendeine Instanz, irgendjemand, der sich seiner bemächtigt und ihn mit aller Kraft gegen mich in Stellung gebracht hat. Es ist genau das, was ich ihm später auch erkläre, als ich ihn zur Tür geleite und er mich fragt, ob ich jetzt »schockiert« sei.
Der Geruch von Vanille. Das ist der Geruch, den Lambert mit der Frau an der Trambahnhaltestelle assoziiert, von der er mir einmal erzählt hat. Der Geruch eines Menschen, mit dem er noch nie ein Wort gesprochen hat. »Ich weiß, warum seine Karriere kaputtgegangen ist«, sagt er. »Ich weiß es. Aber Sie wollen es ja nicht hören.« Eine Frau mit einer dünnen Aktentasche aus Wildleder auf dem Schoß, die neben mir im L-Train sitzt, riecht auch nach Vanille. Ein Kollege in meiner Supervisionsgruppe hat mir einmal erklärt, Frauen, die ein Parfum mit Vanilleextrakt benutzen, hätten bei Menschen, die als Kind nicht richtig gestillt wurden, besonderen Erfolg, da der Geruch von Vanille mit der Muttermilch assoziiert würde. »Welches Parfum benutzt ihre Mutter?«, könnte ich Lambert fragen, aber ich will ihn nicht unnötig provozieren. Die Gesichter der anderen Fahrgäste sind auf verdächtige Weise ausgeruht. Sie sehen aus, als gäbe es die Hitze gar nicht. Als gäbe es auch keine oberirdische Welt, sondern das hier unten sei unser natürlicher Lebensraum, in dem wir mit
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