Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
weil ich Judith sehen will. Fliege ich mit Delta oder mit KLM? Habe ich nicht auf dem Hinflug in Chicago die Fluggesellschaft gewechselt? Ich komme nach New York, um ein einziges Wochenende mit Judith zu verbringen und so zu tun, als wollte ich eigentlich Mads Christiansen sehen, wie er seinen großen Kongress-Auftritt hat. »Hast du schon mal jemanden therapiert?« Ich habe den Eindruck, er hat den Artikel von Agamben über »biopolitische Tätowierung« auswendig gelernt. »Wir haben immer Angst, dass wir uns selbst nicht erkennen können«, sagt er, »aber wir sind schon sichtbar genug. Mehr als genug.« Ich esse mit ihm in einem Steakrestaurant. Mit Judith bin ich in einem Grillrestaurant. Aber wir essen kein Fleisch, sondern Shrimps. Die Nummer der Iranerin, die Nummer von Jenny ist besetzt. Sex? Um halb fünf? Ich lege meinen Finger auf das schwarz umrandete Gummifeld, das in meiner Erinnerung weich und nachgiebig ist. Die Kamera befindet sich in einem Knopfauge am Ende einer mikrofonartigen, gebogenen Stange. Die ganze Prozedur ist gar nicht so kalt und klinisch, wie ich befürchtet habe. »Wir müssen die Menschen verstehen, die wir lieben«, sagt Judith zu Betty, am nächsten Morgen, als wir zusammen frühstücken. Warum will ich die Iranerin anrufen? Warum will ich mich auf einmal mit ihr treffen? Jetzt in New York, fünfundfünfzig Minuten, bevor mein Flug geht. Ich lege meinen Finger auf das Prüffeld. Ich folge den Anweisungen des Beamten und justiere die Position. Mein Fleisch und Blut wird gescannt und fotografiert. Ich lasse mich tätowieren, so wie Mads Christiansen es ausdrückt, in dem unterirdischen Steakrestaurant, in dem es so kalt ist, dass es mich fröstelt. »Ich glaube, du kannst gar nicht lieben«, sagt er auf einmal, während er in seiner Salatbeilage herumstochert. Du kannst nicht lieben . Ich schaue kurz auf die Kamera, die meinen Finger fotografiert. Im ersten Moment frage ich mich noch, was er damit meint und ob es vielleicht ein Witz sein soll. Aaron ist in Los Angeles bei Dreharbeiten. Und Judith und Betty fahren zum Schrotthändler, um die Scheinwerfer zu besorgen. Wie ein Kind, das nichts mit sich anzufangen weiß, gehe ich zum Müllcontainer vors Haus und suche nach dem Zettel mit der Nummer der Iranerin, die ich, um meinen Schwur einzuhalten, noch am Abend zuvor weggeworfen habe.
»Wie bitte … in meinen Mund?« Sie grinst. Die Silberkugeln auf ihrer Zunge und ihrem Gaumen blitzen. Ihre Zähne, von Speichel überzogen, gleiten unter ihren rosigen Kinderlippen hervor. Sie hält das Kondom mit ihren künstlich verlängerten Fingernägeln zwischen ihren Beinen. Sie dreht sich um. Ich schaue aus dem Fenster und starre auf die beiden ausgehöhlten Scheinwerfer-Halterungen im Wagen von Aaron, den er in der gegenüberliegenden Einfahrt der Nachbarn geparkt hat. Jemand auf dem Parkplatz vor Sears hat Aarons Wagen beim Zurücksetzen so beschädigt, dass beide Scheinwerfer kaputt sind. Ich versuche Aaron davon zu überzeugen, dass man das selbst machen kann. Es dauert nur eine halbe Stunde, dann haben wir die Scheinwerfer ausgebaut. Aaron ist nicht so geschickt, wie ich gedacht habe. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er mit der Handkamera jemandem folgt. Jemandem, der auf der Flucht ist, jemandem, der sich mit zwei schweren Reisetaschen einem Flughafengebäude nähert. Terminal 4. Jetzt kann ich es sehen. Wie weit bin ich vom Check-in-Schalter entfernt? Ich habe zwei schwere Reisetaschen und eine Umhängetasche. Wie soll man sich mit solchen Gewichten an den Armen bewegen? »In meinen Mund?«, fragt die Iranerin. Die Nummer ist verschwunden, sie existiert nicht mehr. In meinem Telefonbuch stehen unter J wie Judith nur die Nummern von Betty, Aaron und Judiths Freundinnen, mit denen ich keinen Kontakt mehr habe, und ihre neue Nummer in Washington. Das hat mit meinem Gelübde zu tun, das ich erneuert habe. Ich habe die anderen Nummern vernichtet. Es hat eine reinigende Wirkung, etwas zu vernichten. Insbesondere Telefonnummern und E-Mail-Adressen von Menschen, mit denen man eigentlich gar nichts zu tun hat. Ist deswegen unser Wochenende in New York so kläglich verlaufen, weil ich mich zwei Tage zuvor mit Anne getroffen habe? Weil ich schon wieder mein Gelübde gebrochen habe? Habe ich an diesem Wochenende, auch in emotionaler Hinsicht, keine Kraft mehr? Und tatsächlich hat Anne in meiner Erinnerung, mit ihren kleinen wie aufgemalt wirkenden Brüsten und ihren schmalen Lippen, etwas
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