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Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)

Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)

Titel: Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Merkel
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Vampirhaftes an sich. Die beiden Scheinwerfer sehen wie Augenhöhlen aus. Leergeschabte ausgebrannte Höhlen. Judith und Betty brauchen den ganzen Vormittag, aber dann kommen sie mit zwei neuen Scheinwerfern von einem weit außerhalb von San Diego gelegenen Schrottplatz wieder zurück. Ich starre in diese schwarzgrauen Leerstellen hinein, in diese metallenen Öffnungen. Ich habe sie selbst da herausgerissen, ich habe die Lampen selbst entfernt. Sie hätten den Fahrzeugbrief mitnehmen sollen oder die Modellbezeichnung aufschreiben können, dann hätte ich mit dem Wagen von Betty zur Iranerin fahren können und dann wäre ich nicht in diese Situation geraten. Dann stünde ich nicht im Haus der Tante meiner Freundin vor einer Frau, die ich dafür bezahle, dass sie vor mir kniet und zu mir sagt: »Was ist los? Warum schaust du die ganze Zeit aus dem Fenster? Oder hast du keine Lust mehr?«

3
    Das Treffen mit Jenny ist von langer Hand vorbereitet. Ich habe schon ein paar Mal mit ihr telefoniert. »Wenn ich kommen soll, dann kostet es 300. Und ohne Voranmeldung 350«, sagt sie am Telefon. »Ich habe keinen Wagen«, sage ich, »ich überlege, ob ich mit dem Taxi fahren soll.« »Fahr nicht mit dem Taxi«, sagt sie. »Ich will das nicht. Du findest mich sowieso nicht.« Unser erster Kontakt liegt fast ein Jahr zurück. Sie will, dass ich mich schon ins Bett lege, wenn sie kommt, aber darauf gehe ich natürlich nicht ein. Es ist der Versuch, die Zeit, die wir zusammen verbringen, auf ein Minimum zu beschränken. »Ich möchte, dass du ganz normal angezogen bist«, erkläre ich ihr. »Meinetwegen wie eine Studentin, verstehst du? Was für einen Wagen fährst du?« Sie parkt ihren Wagen wie vereinbart nicht vor dem Haus, sondern einen Block weiter. Ich bin überrascht, sie ist schöner und charmanter, als ich gedacht habe. Sie arbeitet als Personalmanagerin, sagt sie. Obwohl sie vorher um jede Minute gefeilscht und mir abwechselnd vorgeschlagen hat, ich solle die Tür auflassen oder mich wenigstens schon mal ausziehen, lässt sie sich jetzt ohne weiteres durchs Haus führen. Als wäre ich ein Immobilienmakler und sie eine vermögende Kundin. Sie selbst findet diese Umkehrung unserer Rollen amüsant. Ich habe bestimmte Vorstellungen und Erwartungen an unser Treffen, aber sie kommt dann über eine Stunde zu spät, und auf einmal erweist sich meine ursprüngliche Choreographie, die in dem am weitesten vom Eingang entfernten Dachzimmer beginnt, als zu gefährlich. Es gibt keinen Plan B. Wie ließe sich die Anwesenheit einer tätowierten und gepiercten Iranerin schon erklären? »Verlang nicht von mir, dass ich schauspiele. Das kann ich nicht.« »Das würde ich auch gar nicht wollen«, sage ich. Wir gehen im ersten Stock von Zimmer zu Zimmer. Für einen Augenblick überlege ich, ob das Badezimmer nicht der sicherste Ort ist. Das Badezimmer von Betty und Aaron. Auf dem hellen Velourteppich der Dachetage heben sich ihre dunklen, bronzefarbenen Füße ab. Sie hat ihre Schuhe auf der Veranda stehen gelassen. Und ich mache mir in Gedanken eine Notiz: Schuhe auf der Veranda nicht vergessen! Sie hat auffallend schöne Füße. An jedem der mittleren Zehen sind silberne Zehenringe. Ich schaue auf den grünen Velourteppich und denke, sie geht auf Händen. Einmal bleibe ich vor ihr stehen und denke: Ich könnte mich dafür bestrafen, dass ich sie hergeholt habe, indem ich sie frage, ob ich ihr die Füße küssen darf. Aber dann habe ich dazu auf einmal keine Lust mehr.

    Das ist der Augenblick, den man erkennen muss. Die letzte Chance, ein Moment, in dem man gegen alle inneren Widerstände und vor allem gegen jede Vernunft beherzt und entschlossen handeln muss. Ich gehe mit ihr durchs Haus. Es ist von außen vollständig weiß lackiert. Unter der modernen Holzverkleidung soll sich angeblich eine Arts-and-Crafts-Fassade befinden, wie Aaron behauptet. »Nein, nicht im Bad«, sagt sie. Wir gehen nach unten, stehen eine Weile auf der rückwärtigen Terrasse und blicken in den Garten. Gibt es eine Verabredung zwischen Judith und mir, dass so etwas nicht passiert? Haben wir jemals darüber gesprochen? »Meine Sünden … Aber davon will ich gar nicht erst anfangen«, hätte ich sagen können. Mein Gelübde, meinen Schwur, den ich gebrochen habe. Im Fulton Park, zwischen den Brücken, die nach Manhattan führen, auf einer Parkbank, stehe ich kurz davor, ihr von alledem zu erzählen. Ob ich mir einen letzten Trumpf aufbewahren will? Die Räume im

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