Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
Haus sind überall mit Teppichen, Kissen und Sitzgelegenheiten ausstaffiert. Unsere Schritte sind gedämpft. Das ganze Haus erscheint mir im Nachhinein wie ein therapeutisches Zentrum, in dem normalerweise Tagungen und Fortbildungen stattfinden, in einem kleinen Kreis für Interessierte. Meine Anwesenheit dort, die zwei Nächte, die Judith und ich vor und nach unserer Reise auf dem Schlafsacklager verbringen, sind ein sanfter unmelodischer Missklang. Das Haus organisiert sich in meiner Erinnerung um einen kleinen, relativ düsteren Raum herum, in dem Betty und ihr Freund vor dem riesigen Fernseher sitzen und ihre DVD-Sammlung durcharbeiten, die sie hüten wie eine unüberschaubare Kinderschar, von der sie alle Kinder gleichermaßen lieben. »›Brazil‹ haben wir elf Mal gesehen, oder?«, fragt Aaron Betty, als ich wissen will, warum sie sich den Film schon am frühen Morgen anschauen. »Das macht einfach Spaß, das beruhigt, wenn so was im Hintergrund läuft«, sagt Betty mit ihrer leicht apathischen Stimme, zu der es passt, dass sie sich in ihrer Wohnung kaum noch bewegt. Die Erziehungsberatungsstelle, in der sie arbeitet, liegt irgendwo am Stadtrand, ein neues Programm nach Carolyn Webster-Stratton wird gerade implementiert, und mal ist Betty den ganzen Tag zu Hause, und mal kommt sie schon am frühen Nachmittag zurück. Sie hat die Fähigkeit, ihre kleinen Schwächen mit einer gewissen Würde einfach zuzulassen, sodass selbst ein großes Fastfood-Gelage bei ihr zu Hause bei niemandem ein schlechtes Gewissen auslöst. Ihre Gelassenheit ist zweifellos eine Form der Weisheit, und mittlerweile kann ich es verstehen, dass Judith sie ihren eigenen Eltern vorzieht. Die Iranerin findet den Raum mit dem Flachbildschirm klaustrophobisch. Es erregt mich auf einmal, dass sie diesen Ausdruck benutzt. Es erscheint mir untypisch für eine Personalmanagerin, aber ich will nicht weiter nachfragen, weil ich vor unserer sexuellen Begegnung nicht zu viel über sie wissen will. Meine ursprüngliche Idee, sie in diesem Raum beim Sex zu filmen und das Filmmaterial dann mit ihr, während wir weiterhin Sex haben, gemeinsam anzuschauen, erweist sich als zu kompliziert. »Komm, wir ziehen uns einfach aus«, sagt sie. Ich schüttele den Kopf und schaue auf den Fernseher. Frühmorgens um halb sieben. Obstsalat und Brazil . Steckt ein Geheimnis dahinter? Gibt es einen Übergang? Eine Stelle im Haus, die nach München führt? Eine Schleuse? Vom Fernseher in Primm und der verschlossenen Fahrstuhltür zu dem velourteppichbedeckten Holzfußboden in San Diego weiter bis zur Treppe aus Marmor in München, die zu der mit einem Metallgitter geschützten Glastür unserer Gästewohnung führt?
In plötzlicher Panik schießen mir mehrere Alternativpläne durch den Kopf: Wir fahren in ihrem Auto irgendwohin. Wir verlassen das Haus und laufen irgendwohin. Schließlich kommen wir in das Zimmer, in dem ich mit Judith schlafe. Es gibt kein Bett, keinen Stuhl, nur ein winziges Waschbecken und einen kleinen fleckigen Spiegel. Es ist undenkbar, dass das hier geht. »Im Stehen«, sagt die Iranerin und schaut mich verführerisch an. Sie hofft auf eine schnelle Lösung, etwas, das wir im Vorübergehen erledigen können. »Ich möchte, dass du dich ausziehst, aber lass den Schmuck an«, erkläre ich. Sie ist schon mehr oder weniger nackt, als wir das Zimmer erreichen. Das, was ich im Zimmer sehe, was mich dort erwartet, ist der eigentliche Schock, das eigentliche Motiv, der eigentliche Erinnerungsbrandfleck. Ich könnte hundertmal in der Wüste kauern und vor den Augen von Betty und ihrem Freund verbrennen, dieses Erlebnis lässt sich damit nicht aus der Welt schaffen. Der Körper der Iranerin ist sehr schön. Sie läuft durch das ganze Haus. Ich würde sie am liebsten immer so herumlaufen lassen und zuschauen, wie sie sich bewegt. »Das ist der Unterschied«, sagt Mads Christiansen bei einer seiner wissenschaftlichen Monologe, mit deren Hilfe er seine neuen Ideen an mir ausprobiert. Als er an seinem Buch über Evolutionsmanagement schreibt, erzählt er mir ständig von faszinierenden Phänomenen aus der Tierwelt, von der Intelligenz von Fischschwärmen zum Beispiel, bei der die kognitiven Fähigkeiten in die Gesamtheit des Systems schon integriert sind, sodass der ganze Schwarm sich wie ein Individuum verhält. In seinem neuen Buch, dessen Thema er mir aber nicht verrät, muss es um Sexualität gehen. Er sagt: »Zwischen Askese und Promiskuität gibt es keinen
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