Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
Vom Netzwerk:
nicht?«
    »Nein. Du hast eben hierherkommen müssen.«
    »Wahrscheinlich. «
    »Um mich zu entdecken«, sagte sie.
    »Dich zu entdecken ...«
    »Ja, wie einen Pilz. Du hast die Blätter beiseite geschoben, und da war ich plötzlich.« Sie schien ruhig, ergeben. »Du hast die Nase eines Trüffelschweins, amore.«
    »Meinst du?«
    »Du hast Intuition«, sagte sie. »Sie ist sehr stark, sehr ausgeprägt. Ich interessiere mich für diese Dinge, weißt du, ich beschäftige mich damit. Ich werde am Ende noch eine Mystikerin werden«, gestand sie. »Wenn die Zeit dafür reif ist. Wenn mich die letzten Gelüste des Fleisches verlassen haben«, fügte sie mit einem leisen Lächeln hinzu. Es gab eine Hellseherin, eine Frau, die mit vielen Tieren zusammenlebte. Lia ging sie oft besuchen. Viri begleitete sie. Sie lebte in einer normalen Wohngegend, in einem Haus wie alle anderen, modern, kalt. Die Wohnung war voller Pflanzen, Vögel, bizarrer Gemälde, Aquarien. Es gab noch andere Besucher: Paare, die sich Kinder wünschten, Frauen mit kränklichen Söhnen. Signora Clara legte die Hand auf. Sie sprach zu ihnen, ihre Stimme war mühevoll, wie von fern. Das weiche Blubbern der Pumpen in den Aquarien stieg hinter ihr auf. Zu Viri sagte sie: »Kommen Sie, sehen Sie sich das an. Sprechen Sie Italienisch?« Sie standen vor dem trüben Wasser, durch das ein perlender Strom von Bläschen aufstieg. Sie trug Pantoffeln, ihr Pullover war aufgeknöpft.
    »Das sind meine Kinder«, sagte sie.
    Die Fische hingen im durchsichtigen Dunkel, ihre Bewegungen waren merkwürdig abrupt. Sie tippte sachte gegen das Glas.
    »Kommt, Kinder, kommt«, sagte sie und griff langsam in das Aquarium, zärtlich nahm sie einen in die Hand und hob ihn heraus. Er lag ruhig in ihrer feuchten Hand. »Alles Leben ist eins«, sagte sie.
    Sie lebte mit ihrem Dienstmädchen zusammen. Sie habe einen Mann und Familie, sagte Lia, aber sie habe sie verlassen, um sich ganz ihrer Arbeit zu widmen.
    In jedem von uns gebe es zwei Keime, sagte die Frau zu Viri: einen lebendigen und einen toten. »Sie lieben den toten.«
    Er wußte nicht, was sie meinte.
    »Sie kann heilen«, sagte Lia. »Sie weiß alles.«
    »Auf mich macht sie einen kalten Eindruck«, sagte Viri.
    »Sehr distanziert.«
    »Ja, sie ist kalt. Alles zu verstehen heißt, nichts zu lieben«, zitierte Lia.
    Sie machte ihm Tee, sie hielt seine Kleider in Ordnung, sie ließ ihm sein Badewasser ein. Die Regale des Medizinschränk-chens waren mit ihren Cremes und Lotionen vollgestellt. In dem Hof, auf den die Badezimmerfenster hinausgingen, sah es immer gleich aus. Es war Abend. Wenn er herauskam, lag sie da, nackt, mit olivfarbener Haut, gertenschlank. Er putzte sich die Zähne mit italienischer Zahnpasta, er aß italienisches Fleisch, er verschwand Tag für Tag in den alten Straßen, in der dunkelgesichtigen Menge. Er stieg in die großen grünen Busse mit den silbernen Nummernschildern und fuhr - sie immer weniger beachtend -an den alten, verwitterten Säulen vorbei, den Schwärze tränenden Statuen. Er verlor sich unter ihnen, den Passagieren, Zuschauern, Menschenmengen, er war genau wie sie zu den bescheidensten täglichen Handlungen verurteilt. Er bog um Straßenecken, die im prallen Sonnenlicht lagen, verschwand im Schatten von Markisen, auf denen TRATTORIA stand, blieb vor Buchläden stehen.
    Es gab Stunden am Nachmittag, bevor es Abend wurde, in denen er sich verzweifelt nach seinen Kindern sehnte. Er schrieb ihnen wie im Fieber, Briefe, die er kaum zu Ende schreiben konnte, da ihre Gesichter vor ihm auftauchten, gemeinsam verbrachte Tage. Seine Handschrift war wie die eines Kranken. Seid großzügig, schrieb er, lernt die Bedeutung von Freude, tragt meine Liebe Euer ganzes Leben lang in Euch.
    Er war sanft, gefaßt. Mahlzeit reihte sich an Mahlzeit, sie gingen von Restaurant zu Restaurant, Mahlzeiten, bei denen sie über leeren Tassen verstummten.
    »Harakiri?« schlug sie mit ernster Miene vor und nahm ein Messer auf.
    Er schaffte es zu lächeln. »Hab Geduld mit mir«, sagte er zu ihr. Ihm fiel nichts anderes ein.
    Und spätabends sprach sie zu ihm. Wenn nötig, weckte sie ihn auf, und er lag da und hörte zu.
    »Ja«, sagte sie, »du hast Angst, ich weiß, daß du Angst hast. Ich kenne deine Gewohnheiten, ich kenne deine Gedanken. Du hast mich nur mir zuliebe geheiratet, aber nicht deinetwegen - noch nicht. Das wird noch kommen. Oh ja. Es wird kommen, weil ich warten werde. Ich bin wie ein Füllhorn, ich

Weitere Kostenlose Bücher