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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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sagte er.
    »Ja?«
    »Die Frau, die da bei dem Schild steht, die so dünn ist... «
    »Was ist mit der?«
    »Sie trägt einen Ledermantel.«
    »Ja, mit Gürtel.«
    »Wer ist das? Kennst du sie?« sagte er beiläufig.
    »Sie ist mit George Clutha gekommen. Sie heißt Kaya irgendwas... hab's vergessen.«
    »Kaya...«
    »Er sagt, daß sie mehr hält, als sie verspricht.« Sie riefen ihn; sie waren schon auf halbem Weg den Gang hinunter.
    »Sie ist auf der Suche nach einem Job«, sagte deBeque.
    »Ja, danke.«
    »Viri.« Er ließ ihn nicht gehen. »Du kannst was Besseres finden.«
    »Ich dachte nur, daß ich sie von irgendwoher kenne.« Arnaud stand vor ihren Plätzen und winkte ihn heran. Es war ein kleines Kino, das früher mal einen guten Ruf gehabt hatte. Sie behielten ihre Mäntel an.
    »Ich hab versucht, etwas über den Film rauszukriegen«, sagte Viri.
    »Es geht um das sexuelle Erwachen einer jungen Frau.«
    »Hätt ich mir denken können«, sagte Nedra. Arnaud gähnte. »Gerald spielt wahrscheinlich die Hauptrolle.«
    Die Lichter blieben lange Zeit an. Die Leute begannen zu pfeifen und zu klatschen. Viri drehte sich um, als wollte er sehen, ob noch jemand käme. Er schien ruhig und entspannt. Er war verloren wie ein Hund, der hinter Autos herjagt.
    »Ich hab das Gefühl, daß ich einschlafe, bevor der Film angefangen hat«, murmelte Arnaud.
    Schließlich wurde es dunkel, und der Film begann. Die vielen Einstellungen von einem jungen Mädchen mit offener Bluse, das durch Wege und Felder schlenderte oder in demselben unglaub-würdigen Aufzug in der Küche arbeitete, reichten nicht aus, die Zuschauer lange zu fesseln. »Ist ja nicht gerade interessant«, flüsterte Nedra. Arnaud war eingeschlafen. Viri schwieg, unglücklich über die vage Verbindung zwischen der Heldin und dem Mädchen, das irgendwo verborgen zwischen den gelangweilten, hustenden Zuschauern saß. Wenn er sie doch wenigstens aus dem Augenwinkel ein, zwei Reihen vor sich sehen könnte. Er wollte sie unbemerkt anstarren. Es gibt Gesichter, die einen hörig machen, von denen man sich mit dem Gefühl losreißt, als würde man das Atmen selbst aufgeben. Morgen hab ich sie vergessen, dachte er; morgens ist alles anders, morgen bin ich wieder in der Wirklichkeit. Als sie herauskamen, wartete draußen eine Menschenmenge, Leute, die die erste öffentliche Vorstellung um Mitternacht sehen wollten. Arnaud hatte den Mantelkragen hochgeschlagen wie ein Opernstar oder ein Glücksspieler.
    »Das Buch war besser«, kommentierte er, als er durch die Menge ging.
    »Ach ja? Was für'n Buch denn?«
    »Spar dir dein Geld«, sagte er.
    Sie kamen nach Mitternacht nach Hause, die lange, sich dahinziehende Straße lag im Dunkeln, Schnee säumte den Straßenrand. Die Babysitterin lag schlafend auf dem Sofa; ihre Züge waren weich und verwirrt, als Viri sie nach Hause brachte. Sie legten sich in dem großen, kühlen Zimmer schlafen, ihre Kleider lagen auf dem Boden verstreut, das Fenster ließ nur einen Spalt eisige Luft herein.
    »Gerald deBeque ist ein charakterloser Mensch«, sagte Nedra. »Und der Film war absolut grauenvoll. Und es war niemand da, der mich interessiert hätte. Trotzdem hab ich mich amüsiert. Ist das nicht merkwürdig?«
    Er antwortete nicht. Er schlief.

7
    Es war ein Tag kalten Sonnenlichts, der Tag, an dem sechs Jahre zuvor seine Eltern gestorben waren. Er saß an seinem Schreibtisch. Seine zwei Zeichner arbeiteten über die weiten Flächen ihrer Tische gebeugt. Im Büro herrschte Stille, das hatte ihn zum Nachdenken gebracht; plötzlich war Ruhe eingekehrt. Sein Vater und seine Mutter lagen unter der Erde, braun wie die Reliquien von Heiligen, ihre Totenkleider vermoderten. Er war zweiunddreißig, allein auf der Welt. Träume und Arbeit.
    Habe ich schon gesagt, daß er ein Mann war, der Talent hatte, wenn auch im kleinen Rahmen? Er wurde nach dem einen und vor dem anderen Krieg geboren - 1928, ein Jahr der Krise übrigens, ein Jahr auf dem Pfad des Jahrhunderts.
    Er wurde ungeachtet der schlechten Zeiten geboren, wie jedermann; das Krankenhaus gibt es nicht mehr, der Arzt ist im Ruhestand, er lebt jetzt im Süden. Er glaubte an Größe. Er glaubte an sie, als wäre sie eine Tugend, als könnte er sie besitzen. Er hatte ein Gespür für Menschen, die unter der Oberfläche - wie ein großer Felsen oder ein Schatten - einen Schatz bargen, der entdeckt werden, der eines Tages ans Licht kommen würde. Er hatte ein klares, präzises Auge, was den Wert der

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