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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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dir nicht von dem Mädchen erzählt, mit dem ich essen war? Sie war wirklich in Ordnung. Weißt du, irgendwie ist das mit ihr das gleiche. Sie wird nie tanzen können. Darum ist die eigentliche Grazie, die eigentliche Musik in ihr.«
    Es war Abend geworden. Das Licht war verschwunden. Die Straße draußen erzitterte von Bussen, von großen, vorbeirauschenden Wagen. Am Fluß entlang zog eine endlose Prozession, der sich Viri bald anschließen würde. Er würde sich mit ihr fortbewegen, mit müden Beinen, obwohl er nicht gelaufen war, mit leicht schmerzendem Nacken, allein auf dem Weg nach Hause, und die sich endlos wiederholenden Nachrichten anhören.

8
    Wann immer es ging, stand Nedra im Sommer wie im Winter spät auf. Ihr eigentliches Ich blieb bis neun Uhr liegen, fing an sich zu rühren, streckte sich, atmete die neue Luft. Menschen, die lange schlafen, sind für gewöhnlich sehr eigenwillige Personen; sie sind nachdenklich und in sich gekehrt. Nedra hatte volles Haar, es schmiegte sich an sie. Sie trug es auf verschiedene Weise. Sie wusch es und ließ es feucht. Man denkt an die zehn, die zwanzig strahlenden Jahre ihres Aufstiegs. Sie ist eine Frau, deren gelassene Bemerkung die Atmosphäre eines Abendessens bestimmt; der Mann, der neben ihr sitzt, lächelt. Sie weiß, was sie tut, das ist der Kern der Sache; aber woher konnte sie das wissen? Ihre Handlungen wiederholen sich nicht. Sie inszeniert sich nicht. Ihr Gesicht ist elektrisierend - dieses plötzliche, explodierende Lächeln -, und doch, auf merkwürdige Weise gibt sie nichts.
    Ihr Haar duftet nach Blumen. Der Tag ist windstill. Die Sonne steht noch unklar im Dunst, der Fluß glänzt von Licht.
    Sie hat keine Freunde, sagt sie. Rae und Larry. Eve. Es fällt ihr schwer, Freundschaften zu schließen. Sie hat keine Zeit für Freunde, sie ist schnell enttäuscht. Dafür lieben sie die Ladenbesitzer, die Leute auf der Straße, die sie vorbeigehen sehen, wie sie in sich versunken in den Auslagen von Buch laden die schönen schweren Kunstbände betrachtet, die italienische Ausgabe der Vogue.
    »Richten Sie ihr aus, wie sehr wir sie mögen und vermissen«, rufen die Männer aus, die das kleine Seifen-und Parfumgeschäft neben Bonwit's betreiben. »Wo ist sie? Seitdem sie auf dem Land lebt, bekommen wir sie gar nicht mehr zu sehen. Sagen Sie ihr, daß sie mal wieder vorbeikommen muß.« Sie lieben ihren hohen Wuchs, ihre Eleganz, ihre braunen Augen.
    Sie interessiert sich für bestimmte Menschen. Sie bewundert eine bestimmte Art von Leben. Sie ist feinsinnig, hat einen klaren Verstand, manchmal spielt sie Leuten ganz gerne Streiche. Sie ist eine Frau, die intensiv liebt. Andererseits ist sie bei Dingen, die getan werden müssen, nicht zimperlich. Das alles steht in ihrem Traumbuch. Natürlich glaubt sie nicht daran, aber es amüsiert sie, und Teile des Buches treffen durchaus zu. Eve zum Beispiel ist sehr exakt beschrieben. Auch Viri ist gut getroffen.
    Man möchte in die Aura, die sie umgibt, eintreten, angenommen werden, sie lächeln sehen, sie dazu bringen, daß sie diesem tiefen, ihr zugeschriebenen Hang zu lieben nachgibt. Kurz nachdem sie geheiratet hatten, vielleicht eine Stunde danach, hatte auch Viri diese Sehnsucht. Er besaß sie nun, ihre Verbindung hatte den kirchlichen Segen. Zugleich veränderte sich etwas in ihr. Sie wurde seine nächste Verwandte. Sie verpflichtete sich seinen Interessen und widmete sich ihren eigenen. Die verzweifelte, unerträgliche Liebe verschwand, und an ihre Stelle trat eine junge Frau von zwanzig Jahren, die dazu verurteilt war, mit ihm zu leben. Er konnte es nicht genau erklären. Sie war ihm entkommen. Vielleicht war es noch mehr; der Fehler, den sie, wie sie wußte, eines Tages begehen mußte, war endlich begangen worden. Ihr Gesicht strahlte Wissen aus. Eine farblose Ader, wie eine Narbe, lief senkrecht mitten über ihre Stirn. Sie hatte die Grenzen ihres Lebens akzeptiert. Es war dieser Schmerz, diese Befriedigung, die ihre Anmut ausmachten.

    Im Sommer fuhren sie nach Amagansett. Holzhäuser. Blaue, blaue Tage. Sommer ist die Mittagszeit der Familie. Die Stunde der Stille, wenn der einzige Laut der von Seevögeln ist. Die Fensterläden sind geschlossen, die Stimmen gedämpft. Manchmal hört man das Klirren einer Gabel. Reine, leere Tage. Das Meer ist silbern, rauh wie Borke. Hadji hat ein Loch gegraben, in dem er mit zusammengekniffenen Augen liegt, Sand klebt an seiner Schnauze. Er liegt immer dem Meer zugewandt.

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