Lichtjahre
Maestro tritt ein. Er konzentriert sich, steht unbeweglich da. Die großartigen, exotischen Anfangsakkorde von Chabrier. Sie gehen zu Aufführungen von Schwanensee, ihre bleichen Gesichter leuchten in der Dunkelheit des Grand Tier. Die weitläufige Rundung der Sitzreihen ist erleuchtet wie das Ritz. Ein gewaltiger Orchestergraben, groß wie ein Schiff, eine goldene Decke voller Lichtexplosionen, Lampen mit Pendants wie glitzerndes Eis. Der große Nurejew tritt aus dem Vorhang, verbeugt sich wie ein Engel, wie ein Prinz. Sie bitten einander um das Opernglas; sein Hals, seine Brust glänzen vor Schweiß, selbst seine Haarspitzen. Seine Hände spielen wie die eines Kindes mit den Quasten seines Umhangs. Das Ende von Aufführungen, das Ende von Mozart, von Bach. Die Solo-Violinistin steht mit erhobenem Gesicht da, völlig erschöpft, die letzten Akkorde hallen noch nach wie von einer großen Liebe. Der Dirigent applaudiert ihr, das Publikum, die schönen Frauen, mit hocherhobenen Händen.
Sie verbringen ihr Leben zusammen, sie gehen an angelnden Jungen vorbei bis ans Ende des Piers, ein kleiner Aal hängt zusammengekrümmt am Haken. Das stumme Auge des Aals schreit auf, ein schwarzer Punkt in dem glatten silbernen Gesicht. Sie sitzen an dem Tisch, an dem ihr Großvater ißt, Nedras Vater, ein Vertreter, ein Mann der Kleinstädte, mit gelbem Husten, die Camel-Zigaretten immer in Reichweite. Seine Stimme zittert, seine Augen sind trübe, er scheint sie kaum wahrzunehmen. Er bringt den Tod mit in die Küche; ein langes, vergeudetes Leben, der Kokon von Nedras eigenem, seine trockene Hülle, sein vergessener Ursprung. Er hat billige Schuhe und einen Koffer, der mit Mustern von Fensterrahmen aus Aluminium gefüllt ist. Ihr Leben entsteht gemeinsam, ist miteinander verwoben, sie sind wie Schauspieler, eine Truppe hingebungsvoller Schauspieler, die nichts außer sich selbst kennen, außer den vielen Rollen aus alten, aus unsterblichen Stücken. Der Sommer geht zu Ende. Es gibt neblige, kühle Tage, das Meer ist ruhig und weiß. Weit draußen brechen sich die Wellen mit langsamem, majestätischem Klang. Der Strand ist verlassen. Ab und zu schlendern Leute am Wasserrand entlang. Die Kinder liegen wie Hamster auf Viris Rücken; der Sand unter ihm ist warm.
Peter und Catherine kommen sie mit ihrem kleinen Sohn besuchen. Die Familien sitzen getrennt in der Einsamkeit und dem Nebel da. Peter hat einen Klappstuhl und trägt eine Yachtmütze und ein Hemd. Neben ihm stehen ein Kübel mit Eis, eine Flasche Dubonnet und Rum. Ein etwas unheimlicher, aber schöner Tag. Die feinen Nebelschwaden treiben über sie hinweg. Der August ist vorbei. Während einer Gesprächspause erhebt sich Peter und geht langsam, ohne ein Wort zu sagen, ins Wasser, ein einsamer Badender, der in einem blauen Hemd weit hinausschwimmt. Seine Züge sind kraftvoll und gleichmäßig. Er schwimmt sehr gut, er ist ausdauernd. Nach einer Weile schließt sich Viri ihm an. Das Wasser ist kühl. Überall um sie herum ist Nebel, der gleichmäßige Rhythmus der Wellen. Weit und breit ist niemand zu sehen, nur ihre Familien am Strand.
»Es ist wie in der Irischen See«, sagt Peter. »Da scheint nie die Sonne.«
Franca und Danny schwimmen zu ihnen hinaus.
»Es ist tief hier«, warnt Viri.
Jeder der Männer hält ein Kind. Sie drängen sich dicht zusammen.
»Die irischen Seeleute lernen nicht schwimmen«, erzählt ihnen Peter. »Nicht mal einen Zug. Das Meer ist zu mächtig.«
»Aber was, wenn das Schiff sinkt?«
»Sie falten die Hände über der Brust und sprechen ein Gebet«, sagt Peter. Er macht es vor. Wie der geschnitzte Deckel eines Sargs versinkt er langsam im Wasser.
»Stimmt das?« fragen sie Viri später.
»Ja.«
»Sie ertrinken?«
»Sie geben sich in Gottes Hand.«
»Woher weiß er das?«
»Er weiß es eben.«
»Peter ist komisch«, sagt Franca.
Und er liest ihnen vor, wie jeden Abend, als würde er sie begießen, als würde er die Erde zu ihren Füßen umgraben. Es gibt Geschichten, von denen er selbst noch nie gehört hat, und andere, die er schon als Kind kannte, diese Treppen, die für jeden da sind. Was ist die eigentliche Bedeutung dieser Geschichten, fragt er sich, dieser Wesen, die es nicht einmal mehr in unserer Vorstellung gibt: Prinzen, Holzfäller, ehrbare Fischer, die in Hütten leben. Er will, daß seine Kinder ein altes und ein neues Leben haben, ein Leben, das untrennbar mit allen vergangenen Leben verbunden ist, das aus ihnen
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