Lichtjahre
erwächst, das über sie hinausgeht, und ein anderes, das neu, rein und frei ist, das weiterreicht als das uns schützende Vorurteil, als die Gewohnheit, die uns Form verleiht. Er will, daß sie sowohl Entbehrung als auch Heiligkeit kennen, die eine ohne Erniedrigung, die andere ohne Unwissenheit. Er bereitet sie auf diese Reise vor. Es ist, als hätte er nur eine Stunde Zeit, und in dieser einen Stunde muß aller Proviant gepackt, aller Rat erteilt sein. Er sehnt sich nach dem einen Satz, den er ihnen mitgeben kann, an den sie sich immer erinnern werden, der alles umschließt, der den Weg weisen wird, aber er kann den Satz nicht finden, er kann ihn nicht erkennen. Er weiß, er ist kostbarer als alles, was sie jemals besitzen könnten, aber er hat ihn nicht. Statt dessen badet er sie mit seiner gleichmäßigen, sinnlichen Stimme in den unbedeutenden Mythen Europas, denen des verschneiten Rußland, des Ostens. Die beste Erziehung sei, nur ein einziges Buch zu kennen, erklärt er Nedra. Reinheit entstehe so und der Sinn für Proportionen und das beruhigende Gefühl, immer ein Exempel zur Hand zu haben.
»Welches Buch?« sagt sie.
»Es gibt mehrere davon.«
»Viri«, sagt sie. »Das ist eine bezaubernde Idee.«
9
Im Restaurant setzten sie sich so, wie er es am liebsten hatte, dicht beieinander übereck am Tisch. Die Falten im Leintuch waren frisch, der Raum war lichterfüllt. »Hättest du gern etwas Wein?« fragte er. Sie trug ein pflaumenfarbenes Kleid, ärmellos - der September ist warm in New York -, und eine silberne Halskette, die Blattwerk ähnelte, wie ein Schwärm von i's. Er bemerkte alles an ihr, er nährte sich davon: ihre Zähne, ihren Duft, ihre Schuhe. Der Raum war voll von Menschen, lief über von Stimmengewirr.
Auch er redete. Er erklärte zuviel, aber er konnte nicht anders. Ein Thema führte zum nächsten, regte es an, die Geschichte von Stanford White, wie die Stadt früher einmal ausgesehen hatte, Wrens Kirchen. Er erfand nichts; es strömte aus ihm heraus. Sie nickte und antwortete mit Schweigen, sie trank den Wein. Sie stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch; ihr Blick machte ihn schwach. Sie war wie gebannt, fast hypnotisiert. Sie war intelligent, das war das Besondere an ihr. Sie konnte Dinge aufnehmen, verstehen. Unter ihrem Kleid hatte sie, wie er wußte, nichts an; deBeque hatte ihm das erzählt.
Ihr Apartment gehörte einem Journalisten, der für ein Jahr verreist war. Bücher, gespitzte Bleistifte, säuberlich gestapeltes Holz für den Winter, alles, was man nur brauchen konnte. Da waren Ausgaben von Der Spiegel, weiße Kneissl-Ski. Sie schloß die Tür hinter sich und schob den Riegel vor. Von diesem Moment an, dieser ersten kühlen und trivialen Handlung, schien eine Art Film einzusetzen, ein stummer, fast flackernder Film mit albernen Sequenzen, der sie trotzdem in seinen Bann zog und wahr wurde. An der Wand ihres großen Zimmers hingen Fotos von Freunden, von Schiffen, Partys, Nachmittagen in Puerto Marques. Da war ein Plastikradio, auf dessen Programmskala die großen Städte Europas aufgedruckt waren. Die Odyssee von Kazantzakis. Rotblaue Ränder von Luftpostumschlägen. Vaillands Écrits Intimes. Im Schlafalkoven ein in gehämmertes Silber gefaßter Spiegel, geschnitzte Vögel, eine handbedruckte Tagesdecke.
»Sieht aus wie in Mexiko«, sagte Viri. Seine Stimme schien ihm zu entgleiten, sie war tonlos. »Sind das deine Ski?«
»Nein.«
Dann, ohne Veranlassung, küßte sie ihn. Er zog ihr die Schuhe aus, erst einen, dann den anderen, sie fielen auf den Boden und kullerten zur Seite. Ihre Füße waren aristokratisch, wohlgeformt. Das schwache Geräusch eines Reißverschlusses. Sie drehte sich um und hob die Arme. Das breite Nachmittagsbett, das Dunkel zugezogener Vorhänge. Er flüchtete aus seinen Kleidern, sie fielen in einem Haufen auf den Boden. Sie lag wartend da. Sie schien ruhig, weit entfernt. Er berührte seine Stirn vor ihr, wie ein Diener, wie einer, der an Gott glaubt. Er konnte nicht sprechen. Er umschlang ihre Knie.
Es war ein Apartment, das nach hinten hinausging, auf Höfe mit noch belaubten Bäumen. Die Geräusche der Straße waren verstummt. Ihr Kopf war auf die Seite gedreht, ihre Kehle lag bloß. Das Neue an ihr ließ ihn ertrinken. Irgendwo in der Nähe des Bettes begann das Telefon zu klingeln. Dreimal, viermal. Sie hörte es nicht. Schließlich brach es ab. Sie erwachten viel später, schwach, vorerst in Sicherheit. Ihr Gesicht war noch von der
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