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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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in ihm, ineinander verwoben schlummerten sie dort. Der Fremde, der von Legenden blitzt, kann nicht besiegt werden. Sind sie ihm einmal entwichen, verbinden sie sich mit der Luft, diese Hymnen, diese Witze, diese Lügen, sie werden eingeatmet, sie können nicht herausgefiltert werden. Er ist wie der Bug eines Schiffs, der Meere des Schlafs durchschneidet. Schweigen ist geheimnisvoll, aber Geschichten erfüllen uns wie die Sonne. Sie sind Fragmente, in denen Spiegelungen liegen wie Bruchstücke; sammelt man sie, so entsteht eine größere Form, die Geschichte der Geschichten erscheint.
    »Mein Vater ist tot«, sagte Jivan, »aber meine Mutter lebt noch. Meine Mutter ist eine wunderbare Frau. Sie weiß alles. Sie hat ein Haus, einen kleinen Garten, nicht weit vom Meer. Jeden Morgen trinkt sie ein Glas Wein. Sie hat ihre Heimatstadt nie verlassen. Sie ist wie... wer war das gleich, Diogenes. In diesem kleinen Städtchen, mit seinen Bäumen auf dem Marktplatz, ist sie so glücklich wie wir im Herzen der größten Stadt.«
    »Diogenes?« sagte Viri.
    »Ja, ist das nicht der, der in dem Faß gewohnt hat?«

ZWEI

1
    Am Morgen kam das Licht in aller Stille. Das Haus schlief. Die Luft darüber war schimmernd, endlos, darunter die feuchte Erde - man konnte diese Erde schmecken, ihre Reichhaltigkeit, ihre Schwere, in der Luft baden wie in einem Strom. Kein Laut. Die Käserinde war ausgetrocknet wie Brot. In den Gläsern hielt sich der schale Geruch von verschwundenem Wein.
    Im leeren Eßzimmer hing die Vertreibung aus dem Paradies, ein Gemälde mit wilden Tieren und einem Wald wie von Rousseau, aus dem zwei Figuren traten, der Mann noch immer stolz. Die Frau war anmutig, nur halb von Scham erfüllt; sie war ehrfurchtslos, ihre Haut strahlte. Selbst bei frühem Tageslicht, das die prächtige Schlange ihrer Farben beraubte, die Bäume ihrer Früchte, konnte man sie erkennen, zumindest der Besitzer des Bildes, ihre Beine, die Kühnheit ihres Schamhaares, ihre Vitalität. Es war Kaya. Ihm war das nur durch Zufall aufgefallen. Eines Tages war sein Blick von der leuchtenden Oberfläche gefangengenommen worden, gedankenverloren, wie man von einer schadhaften Stelle auf einer Reliquie, einem weißen Gesicht in der Menge angezogen wird. Er hatte es wie zur Bestätigung entdeckt, als könnten Gegenstände sein Leben bezeugen. An einer anderen Wand hing das berühmte Foto von Louis Sullivan in Mississippi, das in Ocean Springs, seinem Sommersitz, aufgenommen worden war. In weißem Hemd und Hosen, mit weißer Mütze, Schnurr-und Backenbart sah er aus wie der Kapitän eines Flußdampfers oder wie ein Schriftsteller. Er hatte eine lange Nase, feingliedrige Finger, und er lehnte fast geziert, posierend, an einem Baum.
    Er würde kein Sullivan sein, kein Gaudi. Na ja, vielleicht Gaudi, der bis in jenes hohe Alter lebte, das man biblisch nennt, ein asketisches Alter, zerbrechlich, schwach, so streifte er durch die Straßen von Barcelona, ohne daß die Leute wußten, wer er war. Am Ende wurde er von einer Straßenbahn angefahren und einfach liegengelassen, niemand kümmerte sich um ihn. In der Kargheit und dem Gestank eines Hospitals, zwischen Kindern und armen Verwandten, ging ein einzigartiges, exzentrisches Leben zu Ende, ein Leben, das tosender war als das Meer, ein ewiges Leben, ein Leben, das man leicht aufgeben konnte, da es lediglich eine Hülle war; es hatte sich bereits verwandelt, war in Gebäude geflüchtet, in Kathedralen, in die Legende. Morgen. Das erste Licht. Der Himmel hängt bleich über den Bäumen, er ist rein, geheimnisvoller denn je, ein Himmel, der die Fedajin taumeln läßt, der die Nacht der Astronomen beendet. In ihm glänzen, schwach wie Münzen an einem Strand, verblassend, zwei letzte Sterne. Herbstmorgen. Die Pferde auf den nahe gelegenen Feldern stehen regungslos da. Das Pony hat bereits ein dichteres Fell; scheinbar zu früh. Seine Augen sind dunkel und groß, mit spärlichen Wimpern. Geht man nah heran, hört man das gleichmäßige Geräusch der Kiefer auf gemahlenem Gras, spürt den Frieden der Erde.
    Er hat verbotene Träume; in ihnen sieht er eine verbotene Frau, begegnet ihr inmitten einer Gruppe anderer Männer. Im nächsten Augenblick sind sie allein. Sie ist liebevoll, zärtlich. Alles ist unglaublich real: das Bett, die Art, wie sie daliegt... Er wacht auf und sieht seine Frau auf dem Bauch liegen, auf ihr die Kinder, eins auf ihrem Rücken, das andere auf ihrem Hintern. Sie schlafen auf ihr, schmiegen

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