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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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intellektuelles Gesicht, mit durchschimmernden Knochen. Er war ein Freund von Eve. Er hatte sie bei einem Dinner kennengelernt, bei dem er fast die ganze Zeit alleine dasaß. Sie versuchte sich mit ihm zu unterhalten; er sprach mit Akzent.
    »Sie sind Franzose.«
    »Woher wissen Sie das?« sagte er.
    »Wie lange sind Sie schon hier?«
    »Er zuckte mit den Achseln. »Ja, es ist langsam Zeit zurückzugehen«, stimmte er ihr zu.
    »Ich meinte, wie lange Sie schon in Amerika sind?«
    »Dafür gilt das gleiche«, sagte er.
    Er war voller Selbstmitleid, ein Versager. Er wandte sich vom Mißerfolg nicht ab; er war seine Adresse, seine Straße, sein einziger Trost. Sein Leben war von Intimität und Verrat geprägt. Von sich selbst schrieb er: extravagant, falsch. Er war unpraktisch, launisch, ein Sonderling. Er litt und liebte wie eine Frau; er erinnerte sich ans Wetter und an das Essen in Restaurants, Stunden, die wie eine zerrissene Halskette in einer Schublade waren. Er bewahrte alles auf, verkündete er, er bewahrte es hier, und klopfte sich an die Brust. Chaptelle war ein Name, der ursprünglich russisch gewesen war. Seine Mutter war in den zwanziger Jahren während des Bürgerkriegs nach Paris gekommen. Er hatte Beckett kennengelernt, Barrault, er hatte sie alle gekannt. Es gibt eine Art Selbstbewußtsein, die Mauern aus Eis durchbricht. Das soll nicht heißen, daß man sich nicht an ihn erinnerte; seine Intensität, die tiefen Ringe unter seinen dunklen Augen, das Selbstvertrauen, das er wie einen Tumor mit sich herumschleppte - waren Dinge, die man nicht so einfach vergaß. Sie sprachen über Schriftsteller: Dinesen, Borges, Simone de Beauvoir.
    »Sie ist eine öde Frau«, sagte er. »Sartre hingegen, Sartre hat esprit .«
    »Kennen Sie Sartre?«
    »Wir gehen in dasselbe Café«, sagte Chaptelle. »Meine Frau, meine Ex-Frau, kennt ihn besser. Sie arbeitet in einer Buchhandlung. «
    »Sie waren verheiratet.«
    »Wir sind sehr gute Freunde«, sagte er.
    »Wie heißt sie?« fragte Eve.
    »Wie sie heißt? Paule.«
    Sie waren auf ihrer Hochzeitsreise in all die kleinen Städte gefahren, in denen Colette gewesen war, in den Jahren, als sie noch in Revuen tanzte. Sie reisten wie Bruder und Schwester. Es war eine Hommage.
    »Wissen Sie, was es heißt, mit jemandem wirklich vertraut zu sein, sich bei jemandem sicher zu fühlen, der einen nie hintergehen wird, der einen nie zwingen wird, gegen seine Natur zu handeln? Zwischen uns war das so.«
    »Aber es hat nicht gehalten«, sagte Eve.
    »Es gab andere Probleme.«
    Als Nedra ihn zum ersten Mal traf, war er ruhig; er schien gelangweilt. Ihr fiel auf, daß seine Manschetten schmutzig und seine Hände sauber waren; sie erkannte ihn sofort. Er war Jude; sie wußte es in dem Moment, als sie ihn sah. Sie teilten ein Geheimnis. Er war wie ihr Mann; in der Tat schien er der Mann zu sein, den Viri in sich verbarg, das Negativbild, das irgendwie verschwunden war.
    Er trank eine kleine Tasse Kaffee, in die er zwei Löffel Zucker rührte. Er war wie ein unverheirateter Sohn, der am Morgen heimgekommen war, der Sohn, der alles verloren hat. Er schniefte. Er hatte nichts zu sagen. Er war so leer wie jemand, der ein Verbrechen aus Leidenschaft begangen hat. Er war sein eigener Leichnam. Man konnte in ihm sowohl den Mörder als auch die halbnackt auf dem Boden zusammengesackte Frau sehen.
    »Ihr Mann ist Architekt«, sagte er schließlich.
    »Ja.«
    Wieder schniefte er. Er berührte sein Gesicht mit der Serviette. Er hatte Eve vergessen, das war offensichtlich; man mußte sie beide nur ansehen, um das zu erkennen.
    »Ist er begabt?«
    »Sehr«, sagte Nedra. »Sie sind Schriftsteller.«
    »Ich schreibe Stücke.«
    »Bitte entschuldigen Sie meine Unwissenheit, aber sind von Ihren Stücken schon welche aufgeführt worden?«
    »Aufgeführt? Sie meinen auf der Bühne?«
    »Ja.«
    »Noch nicht«, sagte Chaptelle ruhig. Es war seine bündige Art, die einen überzeugte, sein Hochmut. »Könnte ich mir eine von Ihren Zigaretten borgen?«
    Die Verzweiflung bestimmter Menschen ist so groß, daß man - selbst wenn sie nichts tun, selbst wenn sie schlafen - spürt, wie ihr Leben zerrinnt. Sie heben sich nichts für später auf. Es gibt keinen Grund dafür. Jede Stunde ist eine Art Erniedrigung, ein Versuch, alles wegzuwerfen. Er drückte die Zigarette nach ein, zwei Zügen aus. »Ich schreibe Stücke, aber nicht für die Bühne, nicht für die Bühne von heute«, sagte er. »Wissen Sie, wer Laurent

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