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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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Abendessen, ihre Stimme am Telefon - das war, was ihm blieb, wie Schnipsel, die sie zurückgelassen hatte. Er ging langsam die Treppe hinunter. Ich sterbe, dachte er. Ich habe keine Kraft mehr.
    Er saß im Auto. Ich muß ihn sehen, beschloß er, ich muß sehen, wer es ist. Ein Postauto kam die Straße herauf. Leute gingen zur Arbeit. Er war zu nah an der Tür. Etwas weiter war eine Parklücke. Er ließ das Auto an und fuhr dahin. Plötzlich kam jemand aus dem Haus, ein Mann mit rundem Gesicht, einem Aktenkoffer, er trug einen Lodenmantel. Nein, unmöglich, dachte Viri. Im nächsten Moment kamen zwei weitere Männer heraus - sollte das Ganze eine Farce werden? - und dann noch einer. Er war fünfzig; er sah aus wie ein Anwalt.
    Er saß im Büro, außerstande zu denken. Seine Zeichner trafen ein. Alles in Ordnung? fragten sie. Ja. Ihre breiten, glatten Tische strahlten schon Sonnenlicht ab. Sie hängten ihre Mäntel auf. Es war, als hätten die weißen Telefone, die Stühle aus Chrom und Leder, die angespitzten Bleistifte ihre Bedeutung verloren; sie waren wie Dinge in einem Geschäft, das geschlossen hat. Sein Blick glitt in betäubender Stille darüber, einer Stille, die undurchdringbar war, obwohl er in ihr sprach, nickte, Gesprächen zuhörte. Um zehn kam sie ins Büro. »Bitte, ich kann jetzt nicht reden«, sagte sie.
    Sie trug einen engen, gerippten Pullover in der Farbe von Packkartons; ihr Gesicht war weiß. Als sie durch den Raum ging, war er sich ihrer Beine bewußt, des Klangs ihrer Absätze auf dem Boden, der Knöchel in ihren Handgelenken. Er konnte sie nicht ansehen, alles an ihr, was er gekannt hatte, was er berührt hatte, verblaßte. Er ging noch vor Mittag zu einem Termin. Er rief sie aus einer Zelle an, sobald er aus dem Haus war. Seiten waren aus dem Telefonbuch gerissen. Die Tür ließ sich nicht schließen.
    »Kaya«, sagte er. »Bitte. Was meinst du, du kannst nicht reden?«
    Sie schien hilflos.
    »Ich brauche dich«, sagte er. »Ich kann nichts ohne dich tun. Oh Gott«, sagte er leise. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er konnte ihr nicht sagen, was er empfand. Er war wie ein Flüchtling. »Oh Gott, ich kenn diese Frau... «
    »Hör auf.«
    »Ich bin für sie ins Gefängnis gegangen, meine Rippen kommen schon durch. Ich hab mein Leben aufgegeben... «
    »Wie sollte ich wissen, daß du kommst?« sagte sie. »Warum hast du mich nicht angerufen?« Sie begann zu weinen. »Hast du denn überhaupt keinen Verstand?« stieß sie hervor. Er hängte auf. Er wusste ganz genau, daß Reden sinnlos war, daß es einen Moment gegeben hatte, da er sie mit aller Kraft hätte schlagen müssen. Aber er war keiner dieser Männer. Sein Haß war schwach, blaß, er konnte nicht einmal sein Blut in Wallung bringen.
    Zehn Minuten später entschuldigte er sich bei seinem Auftraggeber und lief hinaus, um sie noch einmal anzurufen. Er versuchte, ruhig zu sein, ohne Angst.
    »Kaya.«
    »Ja.«
    »Laß uns uns heute abend treffen.«
    »Ich kann nicht.«
    »Dann morgen.«
    »Ja, vielleicht morgen.«
    »Bitte. Versprich es mir.«
    Sie gab ihm keine Antwort. Er bat sie.
    »Ja. In Ordnung«, sagte sie schließlich.
    Er konnte nicht zurück ins Büro. Er ging statt dessen zu ihrer Wohnung und klingelte an der Tür. Keine Antwort. Er ließ sich ein. Eine Kälte war über ihn gekommen, eine tiefe Kälte wie der Schock nach einem Unfall. Die Sonne schien. Im Radio wurde das Wetter durchgegeben, die Nachrichten.
    Das Bett war nicht gemacht, er konnte sich ihm nicht nähern. In der Küche standen schmutzige Gläser, ein Eisbehälter, in dem nur noch Wasser war. Er ging zum Schrank. Er war umgeben von ihren Sachen, sie schienen dünn, ohne Substanz. Mit zitternder Hand schnitt er aus einem herabfließenden dunklen Kleid, dem schönsten, das sie besaß, das Herz heraus. Er hatte Angst, daß sie zurückkommen und ihn dabei überraschen könnte; er hatte keine Erklärung, er wußte nicht, wohin. Danach saß er am Fenster. Sein Atem war flach, wie der einer Eidechse. Er saß regungslos da; die Leere, die Stille der Zimmer begann ihn zu beruhigen. Sie lag im grauen Morgenlicht, ihr Rücken war glatt und leuchtend, ihre Beine schwach. Sie war nackt, gedankenlos. Er schob ihre Knie auseinander. Nie mehr.
    Nedra war glücklich an diesem Abend. Sie schien mit sich zufrieden.
    »Ist alles in Ordnung?« fragte sie.
    »Wie? Ja, es war ein langer Tag.«
    »Jetzt haben wir unsere eigenen Eier«, verkündete sie.
    Die Kinder waren ganz aus dem

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