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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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die Schule lag am oberen Broadway über einem melancholischen Laden von Schrafft's.
    Dämmerung in der Stadt, die Lichter des Verkehrs, der Busse fluteten über die Straße, Spiegelungen in Fenstern, Optiker-läden. Es war kalt, beißend, eine Welt von Menschenmengen, die an Zeitungsständen vorbeiliefen, an Drugstores mit herabgesetzten Preisen. Frauen in Rolls-Royces, das Gesicht vom Armaturenbrett beleuchtet. Sie hielten vor Hydranten, während Viri in Geschäfte ging, um eine Flasche Wein zu kaufen, die er mit einem Scheck bezahlte, oder flache weiße Ecken Brie, so weich wie Pudding - nichts im Übermaß, keine Vorräte -, so rollten sie den Broadway entlang. Er war ihre Straße, ihr Boulevard, sie waren blind gegen seine Häßlichkeit. Sie gingen zu Zabar's, zum Maryland Market. - Sie hatten für alles bestimmte Geschäfte, die sie entdeckt hatten, als sie jung verheiratet waren und in Manhattan wohnten.
    Das Radio spielte, das Standlicht war eingeschaltet. Nedra hatte sich auf ihrem Sitz nach hinten gedreht und redete mit den Kindern, während Viri im Geschäft langsam in der Schlange vorrückte. Sie konnten seine Gesten durch das Schaufenster sehen, fast seine Worte ausmachen. Das Mädchen, mit dem er sprach, war schlecht gelaunt, gehetzt; sie nahm mit einem Blatt Wachspapier in der Hand Pasteten aus der Vitrine.
    »Sie müssen etwas lauter sprechen«, sagte sie.
    »Ja. Was sind das für welche?«
    »Aprikose.«
    »Aha«, bekam er heraus.
    Sie hatte einen breiten, ebenmäßigen Mund. Sie wartete. Sprachlosigkeit überfiel ihn, Verzweiflung. Vor seinen Augen tauchte ein letztes Bild auf, wie das einer groben Schwester von Kaya. Ihre Brüste machten ihn schwach.
    »Ja?«
    »Dann nehm ich zwei von denen«, sagte er.
    Sie sah ihn nicht an; sie hatte keine Zeit. Als er das Päckchen nahm, das sie vor ihn hinlegte, sprach sie schon mit jemand anderem.
    Im Auto war es warm, sie lachten, es roch nach dem Parfum, das Nedra sie probieren ließ. Sie fuhren durch Wohnblocks, um dem Verkehr auszuweichen, über Seitenstraßen auf einer wenig befahrenen Route zur Brücke. Und dann durch den Winterabend - die Kinder waren ruhig geworden - nach Hause.
    Nedra machte in der Küche Tee. Das Feuer brannte, der Hund legte den Kopf auf ihre Füße.
    Sie liebte Weihnachten. Sie hatte sich für die Karten etwas Wunderbares ausgedacht: Sie wollte Papierrosen machen, Rosen in allen Farben, und sie in schönen Schachteln verschicken. Sie breitete die Bögen auf dem Tisch aus - nein, das nicht, das auch nicht, sagte sie -, um Farben zu finden, die sie mochte, ja, das hier! Im Haus herrschte eine fast theatralische Aufregung. Seit Tagen lagen auf den Fensterbrettern und Tischen in den Zimmern, in denen sie sich am liebsten aufhielt, Glasperlen, farbiges Papier, Zwirn, goldbemalte Tannenzapfen. Es war wie in einem Atelier; man badete im Überfluß, er verschlug einem den Atem. Viri machte einen Adventskalender. Er war wie immer spät dran; die erste Dezemberwoche war schon vorbei. Er hatte eine ganze Stadt gemalt, der Himmel dunkel wie Samtkissen, mit einer Rasierklinge ausgeschnittene Sterne, Rauch, der aus Schornsteinen aufstieg und in der Nacht verschwand, eine Stadt aus versteckten Hinterhöfen, Balkonen, Dachrinnen. Es war eine Stadt wie Bath, wie Prag, eine Stadt wie durch ein Schlüsselloch betrachtet, Straßen mit Treppen, Kuppeldächer wie die Sonne. Man konnte jedes Fenster öffnen, und dahinter befanden sich Bilder. Nedra hatte ihm einen ganzen Umschlag voller Bilder gegeben, aber einige hatte er auch selbst gefunden. Manche von ihnen waren richtige Zimmer. Es gab Tiere, die auf Stühlen saßen, Vögel, Gondeln, Maulwürfe und Füchse, Insekten, Botti cellis. Jedes einzelne wurde fein säuberlich eingesetzt, heimlich - die Kinder durften nicht in seine Nähe kommen -, und die kunstvolle Fassade der Stadt darüber-geklebt. Es gab Details, die nur Franca und Danny erkennen würden - die Namen auf Straßenschildern, die Vorhänge in bestimmten Fenstern, die Hausnummer an einer Tür. Es war ihr Leben, das er schuf, in seiner einzigartigen Geborgenheit, seinen Wegen, Freuden, ein Leben der gedämpften Farben, voller Logik und Überraschung. Man betrat es wie ein fremdes Land; es war merkwürdig, verwirrend, es gab Dinge, die man auf der Stelle liebte.
    »Mein Gott, Viri, bist du immer noch nicht fertig?«
    »Komm und sieh's dir an«, verlangte er.
    Sie stand neben seiner Schulter. »Das sieht ja fabelhaft aus. Wie ein Buch, ein

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