Lichtjahre
weiter. Machen sie denn die anderen nicht auf?«
Er begann auf die offene Tür zuzugehen. Viri erwartete jede Sekunde die erste ruckartige Bewegung der Räder. Die Züge wurden elektrisch betrieben und beschleunigten schnell.
»Warten Sie, hier ist noch jemand!« rief er. Er haßte sich dafür.
Chaptelle stieg ohne Hast die Stufen hinauf. Der Zug setzte sich in Bewegung, noch bevor er Platz genommen hatte. Er beugte sich im Gang leicht nach vorne, um mit einer seltsamen Handbewegung zu winken, Handfläche nach vorne, wie eine sich verabschiedende Tante. Dann war er fort.
»Hast du ihn in den Zug gesetzt?« fragte Nedra.
»Der ist einzigartig«, sagte Viri. »Hoff ich wenigstens.«
»Er hat mich nach Frankreich eingeladen.«
»Das war eine Reise, die du nie vergessen würdest. Was meinst du damit, er hat dich eingeladen? Weiß er nicht, daß du verheiratet bist? Heute abend zum Beispiel, dachte er vielleicht, daß wir uns hier nur zufällig getroffen haben?«
»Das hat nichts damit zu tun, ob ich verheiratet bin. Ich meine, als Mann interessiert er mich überhaupt nicht. Ich würde das nicht verheimlichen.«
Sie lag im Bett, hinter sich die weißen Kissen, ein Buch in der Hand. Was sie sagte, schien einleuchtend.
»Wir würden bei seiner Mutter wohnen«, sagte sie.
»Nedra, du kannst nicht mal Französisch.«
»Ich weiß. Deshalb wäre es ja so interessant.« Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Seine Mutter hat eine Wohnung am Place St-Sulpice. Ein wunderschöner Platz ist das. Und man kann hinausgehen, sagt er, rings um die Wohnung läuft ein Balkon mit einer schmiedeeisernen Brüstung.«
»Wie wunderbar. Eine Brüstung.«
»Kamine in den Schlafzimmern. Die Wohnung ist nicht dunkel, sagt er. Sie liegt im obersten Stock.«
»Ich nehme an, das Bettzeug wird gestellt.«
»Seine Mutter wohnt dort.«
»Nedra, du bist wirklich außergewöhnlich. Du weißt, daß ich
dich liebe.«
»Wirklich?«
»Aber was deine Frankreichpläne angeht... «
»Denk einfach mal drüber nach, Viri«, sagte sie.
6
Eve war groß. Sie hatte hohe Wangenknochen. Sie hielt sich nicht gerade, wenn sie ging. Die Regale in ihrem Wohnzimmer bogen sich unter dem Gewicht der Bücher. Sie arbeitete in einem Verlag. Ach, du hast bestimmt noch nichts von ihm gehört, sagte sie.
In ihrem Leben blieb immer alles liegen - unbeantwortete Briefe, Rechnungen auf dem Boden, die Butter stand die ganze Nacht über auf dem Tisch. Vielleicht war das der Grund, warum ihr Mann sie verlassen hatte; er war noch hilfloser als sie. Sie war wenigstens fröhlich. Sie trat in hübschen Kleidern aus dem Chaos ihrer Diele heraus wie eine Frau, die im barrio lebt und - vorbei an Straßenhunden und Schmutz - zu einer Limousine geht. Ihr Ex-Mann kam sie besuchen. Er saß zusammengesackt in einem Sessel vor dem Kamin, zu seinen Füßen stand eine Reisetasche. Seine Wildlederjacke hatte Flecken, die Taschen waren eingerissen. Er war erst zweiunddreißig; er hatte das Gesicht eines Obdachlosen. Seine Augen waren verbraucht, in ihnen war nur Leere. Es war eine Qual, wenn er redete - ungeheure, lange Pausen. Er würde mit seinem Sohn... ein Modellflugzeug bauen, sagte er.
»Laß ihn nicht zu lange aufbleiben«, sagte Eve. Sie fuhr am anderen Morgen nach Connecticut, wo sie noch ein altes Haus besaßen, das sie abwechselnd benutzten.
»Hör mal, da fällt mir ein... «, sagte er.
Stille. Kinder fuhren in der engen Sackgasse Rollschuh. Es wurde langsam Abend.
»Die Weide bei dem Teich«, sagte er. Seine Stimme war verloren, unbestimmt. »Du mußt Nelson anrufen, wenn du da bist, den Mann, der den Garten macht. Er muß... « Er hielt inne. »Irgendwas stimmt nicht mit dem Baum«, sagte er schließlich.
»Der, der nicht wächst?«
Eine Pause.
»Nein, der, der wächst«, sagte er.
Er lebte seit einiger Zeit mit einer jungen Frau zusammen. Sie aßen in Restaurants; sie gingen auf Partys. Wenn er aufstand, sah man seine schlaffen Hosen; sie hingen am Gesäß herunter wie bei einem alten Mann.
»Er ist so traurig«, sagte Eve.
»Sei froh, daß du ihn los bist«, meinte Nedra.
»Sie hält nicht mal seine Kleider in Ordnung.«
»Darum ist er so traurig.«
Eve lachte. Sie hatte Gold hinter den Zähnen; es färbte die Ränder, ein dunkler Glorienschein wie bei einer Hure. Sie konnte lachen. Sie war witzig. Ihr Leben hatte keinen festen Grund. Sie war unbekümmert, was das Leben anging, sie konnte es leichtnehmen. Das war es, was sie so unwiderstehlich
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