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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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Kälte fiel in brüchigen, weißen Flecken auf das Dach. Der Weihnachtsmorgen war klar, der Wind wehte noch immer, die Äste knarrten. Franca bekam eine Polaroidkamera, die sie mit einem Aufschrei des Entzückens auspackte; sie weinte fast. Sie machten Bilder voneinander, von ihren Zimmern, dem Weihnachtsbaum. Am Nachmittag hatten sie eine Party, nur eine kleine, für jeden ein Gast; Franca hatte eine Schulfreundin eingeladen, Danny Leslie Dahlander. Sie veranstalteten eine Schatzsuche, es gab Eis, echte Kerzen wurden am Baum angezündet, einem riesengroßen Baum, der am Fenster stand, dicht wie ein Bärenfell, mit Vögeln in den Zweigen, silbernen Kugeln, Spiegeln, Engeln, ein Baum, unter den sich ein hölzernes Dorf schmiegte und dessen Spitze ein zehnzackiger Stern von Bonnier's krönte.
    Die Aufführung konnte nicht beginnen, bevor sie nicht alle Geschenke gesehen hatten, die Hühner, die Fotografien, die Weihnachtseier. Dann trat Viri als Professor Ganges in Erscheinung, mit Schnurrbart und in einem alten Frack. Er brummte tiefsinnig vor sich hin, er führte bestimmte Zaubertricks vor. Neun Zeitschriften wurden auf den Boden gelegt, drei in jeder Reihe. Er verließ das Zimmer, und wenn er zurückkam, sagte er ihnen, welche sie ausgesucht hatten. Nedra war seine Gehilfin: sie berührte die Zeitschriften mit einem Stab - ist es diese, fragte sie, oder die?
    »Und jetzt will ich euch von einem Zaubertrick erzählen, den mein Lehrmeister beherrscht: er kann sieben Minuten unter Wasser bleiben, er kann ein Buch mit einem einzigen Blick auswendig lernen. Mit einem ganz gewöhnlichen Kartenspiel in der Hand, bittet er euch, an eine Karte zu denken, nur an sie zu denken, dann wirft er die Karten gegen das Fenster. Sie wirbeln herum und fallen herunter, aber eine Karte bleibt am Fenster kleben. Es ist die, an die ihr gedacht habt. Er sagt: ›Gut, jetzt geht und nehmt sie vom Fensters und wenn ihr danach greift, um sie abzunehmen, merkt ihr, daß sie draußen am Fenster klebt! Würdet ihr das gerne sehen?«
    »Ja, ja!« riefen sie.
    »Nächstes Jahr«, sagte er; sich in morgenländischer Manier immer wieder verneigend, ging er rückwärts aus dem Zimmer. »Zeig es uns!« riefen sie. »Professor! Zeig es uns!« Was für ein Fest! Sie veranstalteten einen Wolfsgeheulwettbewerb, ein Scherenspiel, sie ließen Pennys ins Wasser fallen und Karten in einen Hut. Als es Abend wurde, schneite es. Schnee fiel auf die stillen Sägewerke am Fluß, die leeren Weihnachtsstraßen.
    Außer dem Bären hatte Danny ein Radio, Reitstiefel und ein prächtiges Buch über das Leben der Tiere bekommen. Franca bekam eine Gitarre, einen Mantel und einen englischen Malkasten. In ihr Tagebuch schrieb sie: Das allerschönste Weihnachten überhaupt. Es hat sogar geschneit. Alle haben sich über meine Geschenke gefreut. Die Party war einfach toll. Ich mag Avril Coffman richtig gern. Sie ist klug. Sie hat das Zauberquadrat vor allen anderen gelöst. Sie hat unheimlich schöne Haare. Ganz lang. Danny wollte nicht rausgehen und das Pony füttern, die dumme Kuh (Danny), also hob ich es gemacht. Ich hab die liebste Mutter auf der ganzen Welt.

8
    Ihr Vater kam sie besuchen. Er war zweiundsechzig. Es fehlten ihm einige Zähne. Er hatte graues, müdes Haar, das er sich gerade zurückkämmte, Haar, das ein Provinzfriseur schnitt. Er redete viel, war zäh und hatte ein kräftiges Kinn mit einer tiefen Einkerbung wie ein deutscher Briefträger. Er rauchte ununterbrochen. Sein Lachen war heiser. Er erzählte viele Geschichten, er erzählte die Wahrheit, und er erzählte Lügen. »Ich hab nur sieben Stunden gebraucht«, sagte er. »Bin nie schneller als hundert gefahren.« Es war sein Geburtstag. Er hatte zwei genau gleiche überdimensionale Puppen mitgebracht. Die Schachteln aus billigem grauem Karton waren offen wie ein Sarg, in den man schauen konnte, mit Cellophan überzogen. Die beiden Mädchen bedankten sich bei ihm und standen da, unschlüssig, was sie machen sollten. »Ihr seid doch nicht zu alt für Puppen?« fragte er.
    »Oh nein.«
    Mitten in einer langen Erklärung, wie man ein Auto pflegen mußte, begann er zu husten. Er hatte seit 1924 immer ein Auto besessen. »Die Leute begreifen es einfach nicht«, sagte er. »Man kann es ihnen erklären, aber sie verstehen es trotzdem nicht. «
    Nedra, in ihrem sandfarbenen Pullover, legte Kartoffeln neben eine Lammkeule. Sie waren geschält und naß. Sie hielt sie in der Hand wie Murmeln. Sie trug einen dunklen

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