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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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antwortete nicht.
    »Entfernen Sie die Haut von der Gans und entbeinen Sie das Fleisch.«
    Sie war schwach, ohnmächtig.
    »Behalten Sie etwas Fett für den Bräter zurück.« Sein Mund gierte nach ihr. Er konnte ihr Fleisch schmecken.
    Sie hatten die endlose Reise begonnen, ein wenig vor, dann zurück. Das Buch war auf den Boden gefallen, er griff nach ihren Armen, ihren Schultern. Sie stöhnte. Sie hatte ihn vergessen, ihr Körper wand sich, ballte sich wie eine Faust. In der darauffolgenden Stille sagte er: »Nedra.«
    Sie antwortete nicht. Ein langes Schweigen.
    »Kennst du die Geschichte von den Arendts?«
    »Den Arendts?«
    »Denen der Laden gehörte. Ich hab ihn von ihm gekauft.«
    »Der junge Mann.«
    »Er handelt mit Antiquitäten.«
    »Ja.«
    »Sein Vater war Bildhauer.«
    »Das wußte ich nicht.«
    »Ich hab ein paar von seinen Sachen. Hab sie hinten gefunden.«
    Es waren zwei kleine Arbeiten, eine davon ein Pferd, dessen Metall ziseliert war wie assyrische Rüstungen.
    »Gefällt es dir?« fragte er. Sie hielt es hoch, über ihr Gesicht.
    »Und das hier«, sagte er.
    Ihre Hände waren schwach, sie konnte es kaum halten.
    »Er war begabt, findest du nicht?« fragte er. »Er hatte eine wunderbare Frau. Sie hieß Niiva.«
    »Niiva.«
    »Schön, nicht? Die beiden waren richtig berühmt. Sie war sehr attraktiv, jeder mochte sie. Sie war leidenschaftlich und stark, und er war sehr nett, aber irgendwas fehlte. Sie hatten ein Haus in Frankreich, im Süden, mit wunderschönen Büchern, sie kannten alle berühmten Leute aus den Dreißigern. Aber sie war eine Stute, und er war ein Ziegenbock - nein, kein Ziegenbock, sondern ein Esel, ein guter, duldsamer Esel.
    Das Ergebnis ist der Sohn. Du hast ihn ja gesehen; er ist wie sein Vater, schwach. Er hat ein paar der Bücher, mit Widmungen der Autoren und Hunderte von Zeitungsausschnitten. Der Vater hat die Familie am Ende verlassen, und sie begann zu trinken. Sie hat das Haus verkommen lassen. Überall Berge von Flaschen. Schließlich ist sie gestorben.«
    »Wie?«
    »Sie ist die Treppe runtergefallen. Weißt du, warum ich dir das erzähle?«
    »Ich bin mir nicht sicher.« Sie ließ ihren Blick wieder auf dem kleinen bronzenen Pferd ruhen.
    »Doch, du weißt es. Sieh mal«, sagte er plötzlich. »Ich will dir etwas zeigen. Ich bin im Moment ein bißchen erledigt, aber trotzdem.«
    Er nahm das Telefonbuch, das vom Landkreis, es war dick wie ein Daumen. Er nahm es zwischen die Zähne und begann es langsam, gleichmäßig, mit hervortretenden Muskeln in Nacken und Arm, zwischen den Zähnen und einer Hand in zwei Teile zu reißen.
    »Siehst du?« sagte er.
    »Ja. Ich weiß, daß du stark bist. Ich weiß«, sagte sie. Sie erhielt einen Brief von ihrem Vater, auf kleinen Bögen linierten Papiers geschrieben. Er bedankte sich darin für die drei Tage, die er bei ihnen gewesen war. Er hatte sich auf dem Heimweg erkältet. Er hatte es aber in einer guten Zeit geschafft, sogar noch schneller als auf dem Hinweg. Sie sei eine gute Pokerspielerin; sie müsse das wohl geerbt haben. Es gibt keine wirklichen Freunde, warnte er sie.

9
    Sommer in Amagansett. Sie war vierunddreißig. Sie lag in den Dünen im trockenen Gras. Ihre Hand war schwarz markiert, jeder Finger war in drei Teile geteilt, der Daumen in zwei, die Handfläche in Quadrate wie ein gefalteter Brief. An den Fingerwurzeln hatte sie die Erhebungen umrandet, Jupiter, Saturn und Merkur, und die Handlinien rot nachgezeichnet. Sie war ganz vertieft, das Diagramm neben sich, fasziniert. Unten am Strand spielten ihre Kinder. Sie war still, eine Ausgestoßene, nicht zu sehen außer vom Meer. Ihr Körper war tiefbraun. Ihre versteckten Brüste waren blaß, um ihre Hüften zog sich ein dünner weißer Streifen, nicht breiter als ein Schlips. Ihre Augen waren klar, ihr Mund farblos; sie hatte Ruhe gefunden. Sie hatte nicht länger den Wunsch, auf Partys die schönste Frau zu sein, berühmte Leute zu kennen, zu schockieren. Die Sonne wärmte ihre Beine, die Schultern, ihr Haar. Sie hatte keine Angst vor der Einsamkeit; sie hatte keine Angst vor dem Altwerden. Sie blieb Stunden dort liegen. Die Sonne erreichte ihren Zenit, die Rufe der Kinder am Strand verebbten, das Meer wurde bleiern. Der Strand war niemals leer. Er war weit, endlos, immer sah man irgendwo Gestalten, in der Ferne, wie Lager von Nomaden. Sie sah Reichtum in ihrer Hand; sie sah ein großartiges letztes Drittel ihres Lebens. Drei klare Ringe von jeweils dreißig Jahren

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