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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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Er war mittleren Alters; er konnte den jungen Mann, der er gewesen war, nicht mehr in sich erkennen. Er saß im Schlafzimmer, schrieb Zahlen auf, Wörter, verzierte sie, machte Muster aus ihnen. 1928, schrieb er, und dahinter, Geboren am 12. Juni in Philadelphia, Pennsylvania. 1930 Umzug nach Chicago, Illinois. Er setzte das fort, zeichnete sein Leben in Daten auf, wie das eines Malers. 1941 Eingeschult in Phillips Exeter. 1945 Studienbeginn in Yale. 1950 Reist durch Europa. 1951 Heiratet Nedra Carnes.
    In der Stille strömten die Gedanken ihm zu: Tage, die er fast vergessen hatte, Mißerfolge, alte Namen, 1960 Das einzig wirklich schöne Jahr in meinem Leben. Und dann, darunter: Verliert alles.
    Er wurde unterbrochen, seine Frau rief ihn. Arnaud war am Telefon. Er steckte das Blatt in die Tasche und ging hinunter. Die Lampen waren angeschaltet, es war Abend geworden. Eve, die Knie zur Seite gebogen, die Füße, halb aus den Schuhen, in glatten Seidenstrümpfen, sprach am Telefon. »Ich weiß nicht, ob ich lieber bei dir wäre oder will, daß du herkommst«, sagte sie. Arnaud war zu Besuch bei seiner Mutter, aber jetzt sehnte er sich danach, mit seiner anderen Familie zu sprechen, der Familie seines Herzens. Seine Zuneigung war überströmend, er erzählte witzige Geschichten, er wollte Einzelheiten des Tages wissen. Viri nahm den Hörer. Sie waren vereint, sie alle, in dem weiten blauen Abend, der sich über den Fluß und die Hügel ausbreitete. Sie redeten und redeten.
    Später saß er mit der Zeitung in einem Sessel, der Sonntagsausgabe, füllig und noch glatt, die ungelesen im Flur gelegen hatte. In ihr waren Artikel, Interviews, alles frisch, ungesehen; die Zeitung war wie ein großes Schiff, die Decks voller Passagiere, wie ein Verzeichnis, in das alles eingetragen wurde, was die Stadt, was die Welt bewegte. Ein großes Schiff, das jeden Tag in See stach, er sehnte sich, auf ihm zu sein, die Salons zu betreten, an der Reling zu stehen. Du bist nicht unbedeutend, sagten sie ihm. Du hast Freunde. Die Leute bewundern deine Arbeit. Er war schließlich ein guter Vater - mit anderen Worten ein schwacher Mann. Wahre Qualität war etwas anderes, sie war unaufhaltsam, mörderisch, sie hinterließ Opfer wie jede andere Aggression; kurz gesagt, sie eroberte. Wir müssen vage sein, wir müssen sanft sein, wenn wir das nicht sind, bringen wir andere Menschen um, was immer unsere Vorsätze waren, wir erdrücken sie mit einer strahlenden Vision. Es ist der Idiot, der so spricht, der Schwächling, dachte er, der gescheiterte Sohn; überschreitet man diese Grenze, ist Tugend nicht mehr möglich.
    Die Nacht bricht herein. Die Kälte liegt auf den Feldern. Das Gras wird zu Stein.
    Im Bett lag er wie ein Mann im Gefängnis, der vom Leben träumt.
    »Wie ging noch mal der Witz, den Booth erzählt hat, der so komisch war?« fragte Nedra. Sie bürstete ihr Haar.
    »Er hat ein außergewöhnliches Lächeln«, sagte Viri. »Wie das eines alten Politikers.«
    »Wo war seine Frau?«
    »Sie lernt fliegen.«
    »Lernt fliegen?«
    »Das hat er jedenfalls gesagt. Also, zwei Betrunkene stehen in einem Aufzug. In irgendeinem Hotel ... «
    »Ist das der Witz?«
    »Eine Frau kommt rein - sie ist total nackt. Die beiden stehen da und sagen nichts. Als sie wieder raus ist, sagt der eine zum anderen: ›Komisch, meine Frau hat genauso ein Kostüm‹«

13
    Die Morgen waren weiß, die Bäume waren noch kahl. Das Telefon klingelte. Dünner Dunst stieg vom Dach der Scheune der Marcel-Maas auf. Seine Frau war allein dort.
    »Schau doch mal vorbei«, bat sie Nedra.
    »Ich fahr nachher in die Stadt. Vielleicht auf dem Rückweg.«
    »Ich würd gern mit dir reden.«
    Nedra fuhr mittags bei ihr vorbei. Das ungeschnittene Gras war still, die Luft kühl. Die Steinmauern der Scheune leuchteten im klaren Aprillicht. Der noch trockene, noch schlafende Obstgarten zog sich den Abhang hinunter.
    »Ich mach mir einen Kir«, sagte Nora. »Willst du auch einen? Weißwein mit einem Schuß Cassis.«
    »Ja, sehr gerne.«
    Sie schenkte den Wein ein. »Robert wohnt jetzt in New York«, sagte sie. »Hier. Keine Angst, ich werd dir nichts davon erzählen.«
    Sie setzte sich und nahm einen kleinen Schluck. »Er müßte kälter sein«, sagte sie. Sie sprang auf, um eine neue Flasche zu holen.
    »Der ist doch in Ordnung.«
    »Nein, du sollst ihn genau so bekommen, wie er sein muß.« Sie war von einer mitleiderregenden Energie erfüllt. »Das hast du verdient«, sagte sie.
    Nedra

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