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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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winziger Teil. Ich meine, man merkt, wieviel England zu bieten hat: unendliche Reichtümer. Das ist ein so schönes Gefühl.«
    »Wollen wir versuchen, für morgen abend Karten fürs National Theatre zu bekommen?«
    »Ich glaub nicht, daß wir noch welche kriegen.«
    »Wir könnten's versuchen.«
    »Nein, lieber nicht. Und außerdem ist es unser letzter Abend hier, und den will ich nicht im Theater verbringen.«
    »Wahrscheinlich hast du recht.«
    »Ich möchte dir einfach für eine wunderschöne Reise danken.«
    »Es tut mir leid, daß wir nicht viel früher gefahren sind. Wir wollten das schon so lange.«
    »Ich bin froh, daß wir nicht früher gefahren sind. Überleg nur, wieviel schöner es jetzt ist. Als würdest du eine Tür in deinem Leben öffnen.« Sie trank einen Schluck Wein. »Und das passiert nur, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Weißt du, etwas habe ich nun definitiv beschlossen ...«
    »Ja?«
    »Ich will nicht in unser altes Leben zurück.«
    Sie sagte es beiläufig. Die Kellnerin versuchte, ihnen Wein nachzuschenken, aber die Flasche war leer. Sie sah einen Moment lang in den Flaschenhals, als könnte sie das nicht verstehen, und stellte sie dann mit dem Hals nach unten in den Eiskübel. »Möchten Sie noch etwas Wein?« fragte sie.
    »Äh, nein, danke«, sagte Viri.
    Sie aßen schweigend. Der Fluß war glatt und reglos.
    »Möchten Sie den Dessertwagen?« fragte das Mädchen mechanisch.
    »Nedra?«
    »Nein.«
    Nach dem Essen schlenderten sie über die Brücke in die kleine Marktstadt, in der Shelley einmal gelebt hatte. Die weiße Helligkeit des Tages erfüllte noch immer den Himmel.
    Die Geschäfte waren geschlossen.
    Sie standen vor der Kirche. »Die Hand des Heiligen Jakob soll hier liegen«, sagte Viri.
    »Seine richtige Hand?«
    »Ja. Eine Reliquie.«
    Er war immer noch verstört; er war darauf nicht vorbereitet gewesen. In der Sommerhitze, in der Stille der Kleinstadt mit ihren dunklen Häusern und den sich windenden Gassen bekam er plötzlich Angst.
    Er kam in jenes Alter, stand an der Schwelle, wo die Welt plötzlich schöner wird und sich einem auf besondere Weise offenbart, in jedem Detail, jedem Dach und jeder Mauer, dem leichten Zittern der Blätter vor einem Regenschauer. Die Welt öffnete sich, als wollte sie einem, jetzt, da das Leben kürzer wurde, einen langen leidenschaftlichen Blick auf sie gewähren, als sollte einem alles, was bisher verweigert worden war, endlich geschenkt werden.
    In diesem Moment, als sie in dem schattigen Kirchhof standen, der an den Staub der hier begrabenen Engländer gemahnte, an gemurmelte Rituale, hatte er eine grauenvolle Vision, wie die kommenden Jahre aussehen könnten: das allzu bekannte Restaurant, eine kleine Wohnung, leere Abende. Er konnte den Gedanken nicht ertragen. »Was meinst du mit unserem alten Leben?« sagte er.
    »Sieh dir diesen Grabstein an«, sagte Nedra. Sie las die dichtgedrängten Worte auf einer dünnen, verwitterten Grab-platte. »Viri, du weißt, was ich meine. Das gehört zu den Dingen, die ich am meisten an dir mag. Du weißt immer, was ich meine, auf jeder Ebene.«
    »In diesem Fall bin ich mir nicht sicher«, sagte er zögernd.
    »Mach dir darüber jetzt keine Sorgen«, sagte sie begütigend.
    »Es war wie ein Schlag. Es kam einfach so überraschend.«
    »Das kann dich doch nicht überraschen.«
    »Wenn du von unserem alten Leben sprichst, weiß ich nicht genau, was ich mir darunter vorstellen soll. Unser Leben hat sich doch ständig verändert.«
    »Findest du?«
    »Aber das weißt du doch, Nedra. In all den Jahren hat unser Leben immer eine Form angenommen, die uns mehr oder minder entsprach, die uns zufrieden gemacht hat. Es ist doch nicht so geblieben, wie es am Anfang war. «
    »Nein, das stimmt.«
    »Also, was meinst du damit?«
    Sie antwortete nicht.
    »Nedra.«
    Sie drehte sich um und ging auf die Brücke zu. »Wir brauchen doch jetzt nicht darüber zu reden«, sagte sie. Sie gingen in der Dämmerung zurück. Der Fluß schlief unter ihnen. Die Boote waren fast alle verschwunden. Sie übernachteten im Brown's, die Nacht war endlich kühl geworden, die Stadt nur von dem Geräusch eines über sie hinwegziehenden Flugzeugs gestört. Sie badeten und zogen sich in der Behaglichkeit von Zimmern aus, die für einen Menschenschlag hergerichtet waren, der die Jagd liebte, die Regeln der Etikette perfekt beherrschte, in privaten Gesprächen lakonisch war und in der Öffentlichkeit gewandt. Sie lagen Seite an Seite in

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