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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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getrennten weichen Betten wie Herrscher über verschiedene Reiche.
    Sie schrieb an André: Wir sind kein einziges Mal in den Hyde Park gegangen; Du has gesagt, daß sei eins der Dinge, die Du ger ne machen würdest, wenn du mir einmal London zeigst. Natürlich war es nicht schwer, den Park auszulassen, es gibt so viel anderes, das man sehen kann. Es ist eine so große Stadt, daß man sie niemals er-schöpfen könnte.
    Ich gehe durch diese wunderbaren Straßen, ich denke an Dein Gesicht und wie sehr ich Dich liebe, an die Dinge, die Du sagst, die mir alles bedeuten. Ich denke oft an Dich - wie, bleibt Deiner Vorstellung überlassen. Aus irgendeinem Grund fühle ich mich Dir hier sehr nahe, und ich bin nicht wirklich unglücklich darüber, daß wir getrennt sind. Ich kann gar nicht unglücklich sein, und zwar Deinetwegen - Deinetwegen bin ich voller Hoffnung (nur hoffentlich nicht ›guter ). Ich vermisse Dich, ich sehne mich nach Dir, ich sehe Dich überall.
    Wir verbringen eine wundervolle Zeit. Wir reden über Gebäude, reisen, um uns welche anzusehen, spüren sie auf. Ich bin wie die Frau eines Insektensammlers. Wir sind auf dieser außergewöhnlichen Insel der Wälder, Konzerte, Restaurants - und es geht nur um Insekten. Aber ich habe immer geglaubt - und gewußt -, daß jeder Ast einen zum Stamm führt. Wenn du eine Sache wirklich kennst, dann berührt sie auch alles andere. Aber das wirst Du sicherlich wissen. Ich liebe Dich heute sehr. Ich umarme Dich von ganzem Herzen.

VIER

1
    Sie wurden im Herbst geschieden. Ich wünschte, es hätte anders sein können. Die Klarheit jener Herbsttage berührte sie beide. Für Nedra war es, als wären ihr endlich die Augen geöffnet worden; sie sah alles, sie war erfüllt von einer großen ruhigen Kraft. Es war noch warm genug, um draußen zu sitzen. Viri ging spazieren, der alte Hund trottete gemächlich hinter ihm her. Das welke Gras, die Bäume, das bloße Licht machten ihn benommen, als wäre er ein Invalide oder am Verhungern. Er meinte, das Gefühl greifen zu können, daß sein eigenes Leben dahinschwand. Während der ganzen Prozedur lebten sie, wie sie immer gelebt hatten, als geschähe nichts.
    Der Richter, der die Scheidung aussprach, hatte Nedras Namen mißverstanden. Er war groß und gebrechlich, man sah die Poren auf seinen Wangen. Er verlas sich mehrmals; niemand korrigierte ihn.
    Es war November. An ihrem letzten gemeinsamen Abend saßen sie zusammen und hörten Musik - es war Mendelssohn - wie ein sterbender Komponist und seine Frau. Das Zimmer war friedlich, erfüllt von schönen Klängen. Die letzten Scheite brannten.
    »Möchtest du etwas Ouzo?« fragte sie.
    »Ich glaub, wir haben keinen mehr.«
    »Haben wir ihn ausgetrunken?«
    »Vor einiger Zeit schon.«
    Sie trug Hausschuhe und braune Samthosen. An ihren Handgelenken waren Armbänder aus Silber und Bambus, sie trug das Haar offen. Sie ging fort, um sich ein eigenes Leben aufzubauen, auch wenn sie schon vierzig war. Sie sagte vierzig, in Wahrheit war sie schon einundvierzig. Sie fühlte sich elend. Sie war zufrieden. Sie würde ihr Yoga machen, lesen, sich selbst beruhigen, wie man eine Katze beruhigt. Affe macht es dreißig, zweiunddreißigmal in Minute, Affe lebt zwanzig Jahre. Frosch macht es zwei , dreimal in Minute, in Winter unter Schlamm, Frosch lebt zweihundert Jahre.
    »Das ist Blödsinn«, hatte Viri gesagt. »Frösche werden keine zweihundert Jahre alt.«
    »Er hat dabei an was anderes gedacht.«
    »Sie würden so groß sein wie wir.«
    Es würde es natürlich nicht leicht sein, aber sie hatte keine Angst. Sie glaubte an das, was danach kommen würde. So viele Gedanken und Ideen, die meisten davon Fragmente, schössen ihr durch den Kopf-vielleicht würde sie am Ende sogar ein neues, ehrlicheres Verhältnis zu Viri aufbauen können; ihre Freundschaft würde sich vertiefen, endlich von allen Zwängen befreit. Auf jeden Fall konnte sie es sich vorstellen, so wie sie sich vieles vorstellen konnte. Sie wandte sich von allem ab, was keinem Zweck mehr diente; sie wandte sich dem zu, was kommen mochte. Am folgenden Tag brach sie nach Europa auf. Es war später Nachmittag, das Auto stand vor dem Haus. Aus der Ferne schien es wie ein ganz normaler Abschied, wie einer der tausende, die ihm vorausgegangen waren.
    »Also, auf Wiedersehen«, sagte sie.
    Sie ließ den Motor an. Sie schaltete das Radio ein und fuhr schnell los. Die Straße war leer. In den Häusern am Straßenrand brannte Licht. In der frühen

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