Lichtlos 1 (German Edition)
?«
Annamaria hat Raphaels Zahnhygiene beendet, legt die Zahnbürste hin und benutzt das Handtuch, um sein Gesicht noch einmal abzutupfen. Der Retriever grinst wie der Joker.
Während sie nach einem Fellpflegekamm greift und sich Raphaels seidiges Fell vornimmt, sagt sie: »Der kleine Finger ihrer rechten Hand hört zwischen dem zweiten und dem dritten Gelenk auf .«
»Von wem sprichst du? Von der Kellnerin? Holly? Du hast gesagt, sie sei normal .«
»Es hat nichts Anomales an sich, durch einen Unfall einen Teil eines Fingers zu verlieren. Das fällt nicht in dieselbe Kategorie wie Fliegenessen .«
»Hast du sie gefragt, wie es passiert ist ?«
»Natürlich nicht. Das wäre grob unhöflich gewesen. Der kleine Finger ihrer linken Hand endet zwischen dem ersten und dem zweiten Gelenk. Er ist nur noch ein Stumpf .«
»Warte, warte, warte. Zwei abgehackte kleine Finger sind ganz entschieden anomal .«
»Beide Verletzungen könnten von demselben Unfall stammen .«
»Ja, natürlich, du hast recht. Sie hätte in jeder Hand ein Fleischerbeil jonglieren können, als sie von einem Einrad gefallen ist .«
»Sarkasmus steht dir nicht, junger Mann .«
Ich weiß nicht, warum ihr milder Vorwurf mir einen Stich versetzt, aber es ist so.
Raphael hört auf zu grinsen, als verstünde er, dass ich freundlich getadelt wurde. Er bedenkt mich mit einem strengen Blick, als hätte er den Verdacht, wenn ich dazu fähig bin, Annamaria gegenüber sarkastisch zu sein, könnte ich ein Typ von der Sorte sein, der heimlich Hundekuchen aus der Vorratspackung stiehlt und sie selbst aufisst.
Ich sage: »Donny, der Automechaniker, hat eine riesige Narbe im Gesicht .«
»Hast du ihn gefragt, woher er sie hat ?« , erkundigt sich Annamaria.
»Ich hätte es getan, aber dann hat sich Donny der Reizende in Donny den Zornigen verwandelt, und ich dachte, wenn ich ihn frage, könnte er es mir an meinem Gesicht vorführen .«
»Es freut mich, dass du Fortschritte machst .«
»Wenn zu erwarten steht, dass ich weiterhin in dem Tempo Fortschritte mache, sollten wir die Bungalows nicht tageweise mieten, sondern gleich für Jahre .«
Während sie behutsam und doch gründlich das Fell kämmt, ziehen die Zähne des Kamms lose Haare aus dem prachtvollen Fell des Hundes. »Du hast doch nicht für heute Nacht schon mit dem Schnüffeln aufgehört, oder ?«
»Nein. Ich habe gerade erst damit begonnen .«
»Dann bin ich sicher, dass du demnächst zur Wahrheit vorstößt .«
Raphael beschließt, mir zu verzeihen. Er grinst mich wieder an und gibt als Reaktion auf die zärtliche Pflege, die Annamaria ihm angedeihen lässt, einen Laut reiner Seligkeit von sich – teils ein Seufzen, teils ein Schnurren, teils ein freudiges Winseln.
»Du weißt wirklich, wie man mit Hunden umgeht .«
»Wenn sie wissen, dass du sie liebst, wirst du immer ihr Vertrauen und ihre Hingabe besitzen .«
Ihre Worte erinnern mich an Stormy und daran, wie wir miteinander umgegangen sind, an unsere Liebe, unser Vertrauen und unsere Hingabe. Ich sage: »Menschen sind auch so .«
»Manche Menschen. Allerdings sind Menschen, allgemein gesprochen, problematischer als Hunde .«
»Das stimmt natürlich bei den schlechten Menschen .«
»Bei den Schlechten, denen, die zwischen Gut und Böse schwanken, und bei manchen von den Guten. Selbst wenn sie innig und für immer geliebt werden, ist das für sie nicht zwangsläufig ein Ansporn zu Hingabe und Anhänglichkeit .«
»Darüber muss ich mir mal Gedanken machen .«
»Ich bin sicher, dass du schon oft darüber nachgedacht hast, Oddie .«
»Na, dann mache ich mich mal wieder ans Schnüffeln « , kündige ich an und drehe mich zur Tür um, doch dann rühre ich mich nicht von der Stelle.
Nachdem sie die langen, schimmernden Fransen auf dem linken Vorderlauf des Hundes gekämmt hat, die von echten Retriever-Fans »Federn « genannt werden, sagt Annamaria: »Was ist los ?«
»Die Tür ist zu .«
»Um Donny fernzuhalten, den Automechaniker, vor dem du mich ausdrücklich gewarnt hast .«
»Sie öffnet sich nur, wenn ich mich ihr von außen nähere .«
»Worauf willst du hinaus ?«
»Das weiß ich selbst nicht. Ich meine ja nur .«
Ich sehe Raphael an. Raphael sieht Annamaria an. Annamaria sieht mich an. Ich sehe die Tür an. Sie bleibt zu.
Schließlich lege ich die Hand auf den Türknopf und drehe ihn um. Die Tür geht auf.
Sie sagt: »Ich wusste, dass du es schaffst .«
Während ich auf die Motelanlage hinausschaue, die von der
Weitere Kostenlose Bücher